Juni 2011
Rosa Luxemburg Paper


Der Abrüstungsmodernisierer - Nuklearpolitik unter Barack Obama

von Otfried Nassauer


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Inhaltsverzeichnis:

1 Veränderungen in der deklaratorischen Nuklearpolitik der USA
2 Atomare Rüstungskontrolle unter Barack Obama
2.1 Der neue START-Vertrag
2.2 Der Teststoppvertrag, der FMCT und die Nichtverbreitung
3 Die Zukunft des Nuklearpotentials der USA
4 Obamas Nuklearpolitik – Auswirkungen auf die NATO und Europa
5 Zwei Jahre Obama - Eine Zwischenbilanz


 

Vor zwei Jahren belebte U.S.-Präsident Barack Obama die Hoffnung auf eine atomwaffenfreie Welt neu. Während einer Rede in Prag sagte er am 4. April 2009: „Als Nuklearmacht, als die einzige Nuklearmacht, die Nuklearwaffen eingesetzt hat, haben die Vereinigten Staaten die moralische Verpflichtung zu handeln. (…) Deshalb erkläre ich heute klar und aus Überzeugung Amerikas Verpflichtung, den Frieden und die Sicherheit einer Welt ohne Nuklearwaffen zu suchen. Ich bin nicht naiv. Dieses Ziel wird nicht schnell erreicht werden – vielleicht nicht zu meinen Lebzeiten. Es wird Geduld und Beharrlichkeit brauchen. Aber wir müssen jetzt auch jene Stimmen ignorieren, die uns sagen, dass sich die Welt nicht ändern wird. Wir müssen darauf insistieren: Ja, wir können es.”[ 1 ] Eine visionäre und realistische Aussage zugleich. Einerseits betonte Obama das Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen und verpflichtete sich, darauf hin zu arbeiten. Andererseits gab er sich als Realist, der weiß, dass dieses Ziel „vielleicht nicht in meiner Lebenszeit“ umgesetzt werden kann. Der visionäre Teil seiner Aussage fußt auf der völkerrechtlichen Verpflichtung der USA, nuklear abzurüsten und letztlich auf nukleare Waffen ganz zu verzichten. Diese ergibt sich aus dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV). Er verpflichtet alle Nuklearmächte dazu, die ihm beigetreten sind, macht ihnen aber keine Zeitvorgabe, bis wann dieses Ziel erreicht werden muss. Den realistischen Teil seiner Aussage ergänzte Obama in Prag um eine Warnung und Präzisierung: „Behen Sie keinen Irrtum. Solange wie diese Waffen existieren, werden die Vereinigten Staaten ein sicheres, gut gesichertes und effektives nukleares Arsenal aufrechterhalten, um jeden Gegner abzuschrecken und unseren Alliierten diese Verteidigung zu garantieren – einschließlich der Tschechischen Republik.“[ 2 ]

Obama kündigte also in Prag nicht nur an, nukleare Abrüstungsschritte anzustreben, sondern bekundete auch seine Absicht, das Nuklearwaffenpotential der USA auf technisch modernem Stand und einsatzfähig zu halten. Gemeinsam markieren die beiden Aussagen des U.S.-Präsidenten das Spannungsfeld, in dem seine Administration nukleare Rüstungs- und Abrüstungspolitik betreibt. Sie kennzeichnen zugleich die widersprüchlichen Positionen in der Regierung und deren Ziel- und Schwerpunktsetzung. Auf der einen Seite stehen einige Visionäre, die mit Obama eine nuklearwaffenfreie Welt für anstrebenswert halten oder diese zumindest als deklaratorisches Ziel benennen wollen, um Fortschritte im Bereich der Nichtverbreitungspolitik erzielen zu können. Auf der anderen stehen die Verfechter einer Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckung, nukleare Modernisierer und pragmatische Rüstungskontrollbefürworter. Ihnen geht es primär darum, dass die USA auch künftig über ein modernes, sicheres und einsetzbares Nuklearwaffenpotential verfügen, das die atomare Abschreckung mit technisch überlegenen Waffensystemen langfristig sichert. Gemeinsam ist den meisten dieser Akteure, dass sie davon überzeugt sind, dass die USA ihre Interessen künftig auch mit einem kleineren, modernen Nuklearwaffenpotential absichern können.

Seit Obamas Prager Rede sind fast zwei Jahre vergangen. Deren erstes war von Vielzahl von Initiativen im nuklearen Bereich geprägt. Diese umfassten die Verhandlungen mit Russland über einen neuen START-Vertrag, die Unterzeichnung des Vertrag, die Ausarbeitung eines konzeptionellen Planungsdokumentes für die künftige Nuklearpolitik der USA, des Nuclear Posture Reviews, ein Washingtoner Gipfeltreffen zur Sicherheit nuklearer Materialien und viele kleinere Vorhaben. Das zweite Jahr begann mit der Überprüfungskonferenz für den NVV, der es nach dem Scheitern im Jahr 2005 erstmals wieder gelang, ein Abschlussdokument zu vereinbaren. Es folgte ein zähes, letztlich erfolgreiches Ringen um die Ratifizierung des neuen START-Vertrages im amerikanischen Senat. Trotz Finanz- und Wirtschaftskrise, Barack Obama gelang es, das Themen nukleare Abrüstung aus der Vergessenheit unter George W. Bush zurück auf die Tagesordnung zu holen. Doch mittlerweile sind alle größeren Initiativen, die 2009 eingeleitet wurden, abgearbeitet. Das legt es nahe, eine erste Zwischenbilanz sowohl der deklaratorischen als auch der praktischen Politik der Regierung Obama im nuklearen Bereich zu versuchen. Welche Schritte nuklearer Abrüstung wurden wirklich gegangen und wie weitreichend sind sie? Welche nuklearen Modernisierungspläne verfolgt die Obama-Administration und welche Rückschlüsse lassen sich daraus ziehen? In welchem Verhältnis stehen Nuklearpolitik und nukleare Rüstungskontrolle zueinander? Vier thematische Aspekte sollen in diesem Beitrag aufgearbeitet werden, um erste Antworten auf diese Fragen zu suchen:

  • Die Veränderungen in der deklaratorischen Nuklearpolitik unter Präsident Obama
  • Die nukleare Abrüstung unter Obama
  • Die Zukunft des Nuklearpotentials der USA und
  • die Folgen der Politik Obamas für die Diskussion in Europa.

Ein wichtiger Bereich der Nuklearpolitik Obamas kann in diesem Beitrag nur so weit beleuchtet werden, wie dies zum Verständnis der diskutierten Fragen nötig ist – die nukleare Nichtverbreitungspolitik. Sie wäre einer eigenen Betrachtung wert, die aber den vorgegebenen Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.

 

1. Veränderungen in der deklaratorischen Nuklearpolitik der USA

Ein Jahr nach seiner Prager Rede, legte Barack Obama den Nuclear Posture Review 2010 (NPR 2010)[ 3 ] vor, eine Blaupause für die künftige Nuklearpolitik seiner Regierung. Mit diesem Dokument wollte er eines der wichtigsten Versprechen aus seiner Prager Rede einlösen. Dort hatte er zugesagt, die Rolle nuklearer Waffen in der Strategie der USA zu reduzieren.[ 4 ]

Der NPR 2010 nimmt Obamas Zielvorstellung von einer nuklearwaffenfreien Welt explizit auf und stellt fest, dass es „im Interesse der USA und aller anderen Nationen“ liege, wenn die „fast 65 Jahre andauernde“ Praxis, „Nuklearwaffen nicht einzusetzen, auf ewige Zeiten ausgedehnt werden“ könnte. Die „fundamentale Aufgabe und Rolle“ nuklearer Waffen sei es, „einen nuklearen Angriff auf die USA, ihre Alliierten und Partner abzuschrecken“. Ziel sei es, die Rolle nuklearer Waffen weiter zu reduzieren, so dass die Abschreckung eines Nuklearangriffs künftig die „einzige Aufgabe“ nuklearer Waffen werde. Vorerst müsse jedoch an der Option eines Nuklearwaffeneinsatzes noch festgehalten werden, um „unter extremen Umständen die vitalen Interessen der USA, ihrer Verbündeten und Partner zu verteidigen.“ Mit dieser Umschreibung nähert sich der NPR der Vorstellung, Nuklearwaffen seien letztlich politische Waffen und ein letztes Mittel, weit an, ohne deren Rolle jedoch als „letztes Mittel“ zu beschreiben.[ 5 ]

Die sogenannte Negative Sicherheitsgarantie für die nichtnuklearen Mitglieder des Atomwaffensperrvertrags[ 6 ] wird im NPR 2010 neu und klarer gefasst: Die “Vereinigten Staaten werden Staaten, die nicht-nukleare Mitglieder des Nichtverbreitungsvertrages sind und ihre nuklearen Nichtverbreitungsverpflichtungen erfüllen, nicht mit dem Einsatz nuklearer Waffen drohen oder Nuklearwaffen gegen diese Staaten einsetzen.“ Die Garantie gilt explizit auch, wenn einer dieser Staaten biologische oder chemische Waffen einsetzen sollte.[ 7 ] Rechnen müssen mit der nuklearen Drohung Washingtons künftig also nur noch Nuklearmächte und Staaten, die ihre Verpflichtungen aus dem NVV nicht (mehr) einhalten. Gemeint sind Länder wie Nordkorea und der Iran. Gegen diese Staaten behält sich Washington das Recht vor, auch auf einen Einsatz von B- und C-Waffen nuklear zu reagieren. Dies ist ein indirekter, aber deutlicher Hinweise darauf, dass die USA sich auch den Ersteinsatz nuklearer Waffen weiterhin vorbehalten. Explizit kommt dieser Vorbehalt im NPR 2010 jedoch nicht mehr vor.

Im Vergleich zu seinem Vorgänger, George W. Bush, hat Barack Obama die Rolle nuklearer Waffen in der deklaratorischen Politik der USA mit dem NPR 2010 tatsächlich signifikant reduziert. Dieser hatte sie zu Beginn seiner Amtszeit ausgeweitet und selbst präventive oder präemptive Einsätze nuklearer Waffen ebenso nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wie den Einsatz gegen nicht-staatliche Akteure, die nach Massenvernichtungswaffen streben oder solche einsetzen. Die Negative Sicherheitsgarantie ließ unter George W. Bush deutlich mehr Ausnahmen und Interpretationsmöglichkeiten zu. Die Vielzahl der Umstände, unter denen ein Nuklearwaffeneinsatz theoretisch in Erwägung gezogen werden konnte, wurde von Obama eingegrenzt. Der Wandel im Vergleich zu seinem direkten Vorgänger ist also deutlich erkennbar. Weit weniger dramatisch fallen die Veränderungen im Vergleich zu den Amtszeiten Bill Clintons[ 8 ] und George H.W. Bushs aus. Die Hoffnung, Obama werde Nuklearwaffen nur noch eine einzige Rolle zuweisen, die Abschreckung eines feindlichen Nuklearwaffeneinsatzes, erfüllte sich jedoch nicht. Das ist bedeutsam, weil sich aus der Rolle nuklearer Waffen die Anforderungen an Struktur, technische Eigenschaften und Fähigkeiten ableiten, die das nukleare Potential eines Landes haben sollte. Dienen sie ausschließlich der Abschreckung, so können militärische Fähigkeiten für eine Minimalabschreckung hinreichend sein. Dienen sie jedoch auch anderen Zwecken, so müssen Umfang und Fähigkeiten des nuklearen Potentials ungleich größer ausfallen, weil die Einsetzbarkeit des Potentials in unterschiedlichen Szenarien gewährleistet sein muss.

Allerdings folgen aus der Neubeschreibung der Rolle nuklearer Waffen im NPR 2010 auch zwei Probleme, die sich unter künftigen Regierungen als schwerwiegend erweisen können, sollten diese die Rolle nuklearer Waffen wieder ausweiten.

Das erste Problem betrifft die Ausnahmen von der Negativen Sicherheitsgarantie. Wer trifft die Entscheidung, dass ein nicht-nuklearer Staat seine Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag nicht mehr erfüllt und deshalb wieder mit dem Einsatz von nuklearen Waffen rechnen muss? Der UN-Sicherheitsrat oder der US-Präsident? Aus der Sicht Washingtons wäre eine Resolution des UN-Sicherheitsrates sicher hilfreich, die Entscheidung würde aber selbstverständlich der U.S.-Präsident treffen. Damit verbunden stellt sich eine zweite Frage: Wie unzweideutig müssen die Beweise dafür sein, dass der betreffende Staat seine Verpflichtungen aus dem NVV nicht mehr erfüllt? Dass diese Frage bedeutsam werden kann und U.S.-Präsidenten falsch urteilen können, hat sich im Falle des Iraks gezeigt.

Der NPR weitet zudem ohne Not das Feld aus, auf dem dieses Problem relevant werden kann: Es stellt sich künftig nicht nur, wenn es um die Existenz oder Nichtexistenz von Programmen zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen geht, sondern schon, wenn ein Staat seine Verpflichtungen aus dem NVV-Regime nicht mehr einhält. Diese aber sind nicht immer eindeutig festgelegt und zudem interpretationsfähig.

Das zweite Problem folgt aus einer inneren Widersprüchlichkeit des NPR. Dieser beschreibt die Gefahr, dass Terroristen an das Material für eine Nuklearwaffe gelangen oder gar eine Nuklearwaffe einsetzen könnten, als größte Bedrohung der Gegenwart. Als zweite große Bedrohung wird die Verbreitung atomarer Waffen an zusätzliche Staaten betrachtet. Erst an dritter Stelle steht die Wahrung der „strategischen Stabilität“ im Blick auf die anderen Nuklearmächte, vor allem Russland und China. Die Wiederbelebung und Stärkung des Nichtverbreitungsregimes wird deshalb zur ersten Priorität in der Nuklearpolitik Obamas erklärt. Auch das geschieht zum ersten Mal in einem Dokument zur strategischen Nuklearpolitik der USA.

Trotzdem muss diese Bedrohungsperzeption hinterfragt werden. Selbst wenn man der Obama-Administration zugute halten wollte, dass sie vorrangig ein Begründungsmuster für eine deutliche Schwerpunktsetzungen bei der Nichtverbreitungspolitik finden wollte, muss man fragen, ob diese Prioritätensetzung der Sache nach gerechtfertigt ist. Hier ist der NPR nicht schlüssig. Wenn es größere Bedrohungen als die Nuklearwaffenpotentiale anderer Nuklearmächte gibt, dann müsste sich dies auch in der Ausgestaltung des künftigen nuklearen Potentials der USA deutlich spiegeln. Der Umfang und die Qualität der künftigen Nuklearstreitkräfte der USA, die der NPR 2010 zu begründen sucht, lässt sich aber ganz sicher nicht aus dem Risiko, dass Terroristen oder weitere Staaten Zugriff auf nukleare Waffen bekommen könnten, ableiten, sondern nur aus den nuklearen Potentialen der anderen Nuklearwaffenstaaten. Sie sind die entscheidende Determinante. Zwischen politischer Rhetorik und praktischer Nuklearpolitik der Regierung Obama existiert damit ein substantieller Widerspruch.

Schließlich: Eine Reduzierung der Rolle nuklearer Waffen findet vorläufig nur in der deklaratorischen Politik Washingtons statt. Bis diese ihren Niederschlag in militärischen Vorschriften, Ziel-, Operations- und Eventualfallplänen des Militärs finden wird, werden noch Jahre vergehen. Substantielle Änderungen wurden bisher nicht geplant. Der OPLAN 8010 „Strategic Deterrence and Global Strike“ und die zugehörigen regionalen Pläne wurden bisher beibehalten. Sie werden fortentwickelt. Mit ihnen kann eine erneute Änderungen der deklaratorischen Nuklearpolitik und eine Ausweitung der Rolle nuklearer Waffen durch künftige U.S.-Regierungen ebenso leicht umgesetzt werden wie mit dem unter Obama geplanten modernisierten Nuklearwaffenpotential.

Das Versprechen, die Rolle nuklearer Waffen in der Strategie der USA zu reduzieren, hat Barack Obama auf der deklaratorischen Ebene gehalten. Damit dieser Schritt glaubwürdig und nachhaltig wirkt, muss er ihn aber nun auch in der militärischen Operationsplanung und in der nuklearen Rüstungsplanung implementieren. Die Ansätze dazu fehlen bislang.

 

2. Atomare Rüstungskontrolle unter Barack Obama

Bereits in seiner Prager Rede verpflichtete sich Barak Obama zu konkreten Schritten seiner Administration im Bereich nuklearer Rüstungskontrolle und Abrüstung. Konkret versprach er, drei Vorhaben anzugehen. Er werde

  • „einen neuen START-Vertrag mit den Russen verhandeln“, der die Begrenzung und Reduzierung der strategischen Atomwaffen in beiden Ländern festschreibe;
  • „die Ratifizierung des Teststoppvertrag (CTBT) durch die USA sofort und aggressiv verfolgen“; und
  • einen „neuen Vertrag anstreben, der die Produktion von Spaltmaterial für den Einsatz in Waffen nachprüfbar beende“.[ 9 ]

Diese Ankündigungen Obamas waren offensichtlich auch darauf ausgerichtet, die Bereitschaft der USA zu einer Politik der vertraglich vereinbarten Rüstungskontrolle und zu einer multilateral orientierten Nichtverbreitungspolitik zu signalisieren und eine konstruktive Atmosphäre für die im Mai 2010 anstehenden Überprüfungskonferenz des NVV zu schaffen. Diese Konferenz sollte nicht wie 2005 scheitern, sondern dazu dienen, Obamas Ziel einer größeren Gewichtung des NVV-Regimes sowie verschärfter Nichtverbreitungsregeln zu befördern.

 

2.1. Der neue START-Vertrag

Ein Jahr nach der Prager Rede Obamas unterzeichneten Russland und die USA am 8. April 2010 einen neuen START-Vertrag[ 10 ]. Dieser begrenzte die Zahl strategisch-nuklearer Trägersysteme beider Vertragsparteien auf je 800 Systeme, von denen jeweils 700 aktiv sein dürfen. Die Zahl der anrechenbar stationierten Sprengköpfe wird auf je 1.550 festgeschrieben. Bis 2018 müssen diese Obergrenzen erreicht werden.

Die Verhandlungen verliefen weit mühsamer und langwieriger als vorhergesehen. Auch der Ratifizierungsprozess dauerte deutlich länger als erwartet. Im Dezember 2010 jedoch fand sich schließlich eine ausreichende Mehrheit (76:21 Stimmen) im US-Senat. Im Januar 2010 machte das russische Parlament, das seine Verhandlungen angesichts der Widerstände im U.S.-Senat zwischenzeitlich ausgesetzt hatte, den Weg zum Inkrafttreten des Vertrages endgültig frei. Russland und den USA gelang mit dem neuen START-Vertrag die Rückkehr zu einer Rüstungskontrollpolitik, die auf das Instrument völkerrechtlich verbindlicher Verträge setzt und für deren Einhaltung geeignete Verifikationsmechanismen vereinbart werden.

Anlässlich der Unterzeichnung stellten Washington und Moskau heraus, dass die Zahl der strategischen Trägersysteme im Vergleich zum im Dezember 2009 ausgelaufenen START-I Vertrag um mehr als die Hälfte reduziert werde, die Zahl der anzurechnenden Sprengköpfe sei um 74% niedriger und im Vergleich zum neueren Moskauer Vertrag, der SORT-Vereinbarung aus dem Jahre 2002, erfolge eine Reduzierung um 30%. Was auf den ersten Blick wie eine große neue Abrüstungsverpflichtung aussieht, ist jedoch faktisch ein begrenzter und überraschend kleiner Schritt.

Weder Russland noch die USA verfügen heute noch über nukleare Potenziale, die auch nur annähernd so groß sind wie jene, die der alte START-Vertrag erlaubte. Zieht man einen Vergleich zu den heute aktiven Potentialen beider Seiten, so fällt auf: Die USA müssen praktisch keine strategische Träger verschrotten und nur rund 100 Träger aus dem aktiven Dienst entfernen. Russland muss gar nichts tun, um die künftig erlaubte Obergrenze für strategische Trägersysteme einzuhalten. In Russland sind nur noch 566 aktive Träger vorhanden. Moskau dürfte theoretisch sogar noch mehr als 200 zusätzliche Systeme aufbauen, wenn es diese bezahlen könnte.

Im Blick auf die atomaren Sprengköpfe für strategische Systeme enthält der neue Vertrag – wie seine Vorgänger – keine Abrüstungsverpflichtung. Er legt lediglich fest, dass jede Vertragspartei maximal 1.550 anrechenbare Sprengköpfe gleichzeitig auf aktiven strategischen Trägersystemen stationieren darf. Das macht die Obergrenze von 1.550 Sprengköpfen irreführend, zumal neue Zählregeln eingeführt wurden. Der neue START-Vertrag zählt strategische Bomber grundsätzlich als einen Sprengkopf – unabhängig davon, ob diese 6,12,16 oder gar 20 Waffen tragen können. Damit können beide Seiten deutlich mehr als 1.550 strategische Sprengköpfe aktiv halten, ohne gegen den Vertrag zu verstoßen. Am Beispiel der USA, die bis 60 strategische Bomber beibehalten wollen: Vertraglich angerechnet werden diese als 60 atomare Waffen, tragen können sie jedoch bis zu 1.136 Waffen. Schon diese neue Zählweise relativiert die Größe der vorgeblichen Abrüstungsverpflichtung erheblich.[ 11 ] Zulässig bleibt es außerdem, Reservesprengköpfe einzulagern, die während einer Krise erneut auf jene Trägersysteme montiert werden können, die mehr Sprengköpfe tragen können als im Alltagsbetrieb auf ihnen montiert sind.

Auf ihren aktiven 798 strategischen Trägersystemen hatten die USA 2011 nach Schätzung der Experten der Federation of American Scientists und des Natural Resources Defense Councils rund 1.950 strategische Sprengköpfe aktiv stationiert. Zusätzlich waren 2.850 weitere als Reserve eingelagert, die Washington theoretisch reaktivieren könnte.[ 12 ] Russland verfügte ein Jahr zuvor noch über 2.500 bis 2.600 aktive Sprengköpfe und unterhielt ebenfalls ein Potential in Krisenzeiten nutzbarer zusätzlicher Sprengköpfe.[ 13 ] Bei den auf aktiven Systemen stationierten Sprengköpfen kommt es also nur auf den ersten Blick zu deutlicheren Reduzierungen.

Zudem verzichtet der neue START-Vertrag auf Begrenzungen, mit denen die alten START-Verträge die Handlungsfreiheit der Vertragsparteien einschränkten. Er enthält keine Teilobergrenzen für bestimmte Typen von Trägersysteme wie mobile Interkontinentalraketen mehr und lässt den Vertragsparteien fast völlige Freiheit bezüglich der Zusammensetzung ihrer Trägersysteme. Entfallen ist auch das Verbot von Mehrfachsprengköpfen auf künftigen Interkontinentalraketen aus dem START-II-Vertrag. Die Regel, nur noch im aktiven Dienst eingesetzte Trägersysteme zu zählen, erlaubt es, U-Boote und deren Raketen z.B. während der Werftüberholung aus dem aktiven Bestand herauszurechnen[ 14 ] oder Strategische Bomber zu Ausbildungseinheiten auf nicht-nukleare Basen zu verlegen, wo sie nicht auf den aktiven Bestand angerechnet werden.

Die Gründe für den begrenzten Abrüstungserfolg des neuen START-Vertrages sind vielfältig: In den USA hatte der Kongress dem Präsidenten mit dem Haushaltsgesetz 2010 enge Grenzen für die Verhandlungen über den neuen START-Vertrag gesetzt. So durfte die Administration zum Beispiel keine vertraglichen Verpflichtungen eingehen, die den Aufbau der Raketenabwehrsysteme der USA und die Entwicklung und Stationierung konventionell bestückter Langstreckenwaffen eingeschränkt hätten. Das zwang Obamas Unterhändler zu einem sehr konservativen Verhandlungsansatz bei der Zahl strategischer Trägersystemen. Russland dagegen kann sich höhere Trägerzahlen aus Kostengründen nicht erlauben und strebte eine deutlich niedrigere Obergrenze an. Im russischen Interesse lag es, Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen wieder zuzulassen. Moskau akzeptierte eine höhere Zahl erlaubter Träger, Washington neue Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen. Mit vereinten Kräften reduzierten die Vertragsparteien so die Tragweite ihrer neuen Abrüstungsverpflichtungen.

Das Ergebnis ist ein Vertrag mit äußerst begrenzten Abrüstungsverpflichtungen. Sicherheitspolitisch relevant ist er vor allem, weil mit ihm die Rückkehr zu einer Politik vertraglich vereinbarter und verifizierbarer Rüstungskontrolle realisiert wurde. Für die große Mehrheit der Mitgliedstaaten des NVVs war der erreichte Fortschritt jedoch nicht überzeugend genug, um bei der Überprüfungskonferenz des NVV ihre Zustimmung zu deutlich verschärften Nichtverbreitungsregeln zu gewinnen.

 

2.2. Der Teststoppvertrag, der FMCT und die Nichtverbreitung

Obamas Vorhaben, den umfassenden Teststopp-Vertrag (CTBT) erneut zur Ratifizierung vorzulegen und sich aktiv für einen Vertrag einzusetzen, der die weitere Produktion waffenfähigen Spaltmaterials verbietet, machten geringe oder kaum Fortschritte.

Einen ernsthaften Versuch, die Ratifizierung des CTBT erneut auf die Tagesordnung des Senates zu setzen, hat es nicht gegeben. Die Obama-Administration gab ihren ursprünglichen Plan, die Ratifizierung des CTBT gemeinsam mit der eines neuen START-Vertrages anzugehen, schnell auf und konzentrierte sich auf die Ratifizierung des neuen START-Vertrages. Zwei Gründe waren dafür wohl ursächlich. Zum einen erwiesen sich die START-Verhandlungen mit Russland als komplexer und langwieriger, als erwartet. Es gelang nicht, sie – wie ursprünglich geplant - 2009 abzuschließen. Zeitweilig war sogar unsicher, ob alle Probleme rechtzeitig vor Beginn der Überprüfungskonferenz für den NVV ausgeräumt werden könnten. Zum anderen verkürzte sich damit der zeitliche Abstand zwischen der Unterzeichnung des Abkommens und den Kongresswahlen im November 2010, der für die Ratifizierung genutzt werden konnte. Hinhaltender Widerstand vor den Wahlen bot der republikanischen Opposition nun eine Möglichkeit, Obama einen außenpolitischen Erfolg vor den Wahlen zu verwehren.

Aufgrund des Erfolgs der Republikaner bei den Kongresswahlen ist die Mehrheit der Demokraten im Senat deutlich abgeschmolzen. Für eine Ratifizierung des umstrittenen und schon einmal an der nötigen Zweidrittelmehrheit gescheiterten CTBT-Vertrags müssen künftig deutlich mehr republikanische Stimmen gewonnen werden als für den neuen START-Vertrag. Unklar ist deshalb, ob die Administration den Vertrag in der zweiten Hälfte dieser Präsidentschaft Obamas überhaupt noch einmal vorlegt.

Kein sichtbarer Erfolg war der Regierung Obama im Blick auf einen Vertrag über ein Verbot der weiteren Produktion waffenfähigen Spaltmaterials vergönnt. Zwar einigte sich die Genfer Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen nach mehr als einem Jahrzehnt der Blockaden im Mai 2009, Verhandlungen über einen solchen Vertrag zu beginnen, doch der Fortschritt erwies sich – wie sooft – als Schnecke. Pakistan blockiert die Aufnahme konkreter Gespräche weiter. Wenn sie doch noch beginnen sollten, dann stehen große Hürden vor den Unterhändlern. Welche Materialien soll der Vertrag als waffenfähig erfassen? Soll der Vertrag sich darauf beschränken, lediglich die Produktion neuen Spaltmaterials zu verbieten oder soll er auch die Nutzung bereits produzierter Materialien für militärische Zwecke untersagen oder einschränken? Inwieweit sollen die vertraglichen Vereinbarungen international überprüfbar ausgestaltet werden? Das sind nur drei der großen Probleme, die gelöst werden müssen und einen raschen Erfolg als äußerst unwahrscheinlich erscheinen lassen.

Länder wie Pakistan glauben, weiterhin zusätzliches Spaltmaterial produzieren zu müssen, um ausreichende Vorräte für die Zukunft einlagern zu können. China hat bisher ein recht kleines Nuklearpotential, aber eine rasch wachsende Rolle in der Welt. Es wird künftig entscheiden müssen, ob es weiter an seiner bisher zurückhaltenden Politik festhält oder seine nukleare Bewaffnung weiter ausbauen und deshalb größere Mengen nuklearen Waffenmaterials vorrätig halten will. Da Pakistan die Gespräche blockiert, muss China seine Interessenslage nicht deutlich zu erkennen geben. Einige Nuklearmächte lehnen zudem Regelungen ab, die ihnen Beschränkungen hinsichtlich der Nutzung ihrer vorhandenen Lagerbestände auferlegen würden. Mit anderen Worten: Der erfolgreiche Abschluss eines solchen Vertrages steht weiter in den Sternen. Vorerst wird die Obama-Administration ihn nicht als Erfolg verbuchen können.

Obamas Bemühen, den rüstungskontrollpolitischen Multilateralismus wiederzubeleben und zu einer Stärkung des NVV-Regimes und zur Durchsetzung verschärfter Nichtverbreitungsregeln zu nutzen, war offenkundig. Als Erfolg kann er vorweisen, dass die Überprüfungskonferenz des NVVs 2010 nicht erneut scheiterte. Eingeschränkt wird dieser Erfolg jedoch durch die Tatsache, dass die Konferenz kaum substantielle Verbesserungen beschloss. Weder auf dem Feld der nuklearen Abrüstung noch auf dem Feld verbesserter Nichtverbreitung wurden wesentliche konkrete, über die Verpflichtungen früherer Überprüfungskonferenzen hinausgehende Ergebnisse erreicht. Allerdings wurde deutlich, dass die USA sich nun wieder an die Ergebnisse der Überprüfungskonferenzen der Jahre 1995 und 2000 gebunden sehen.

 

3. Die Zukunft des Nuklearpotentials der USA

Die grundlegenden Aussagen zur Zukunft der US-Nuklearstreitkräfte finden sich ebenfalls im Nuclear Posture Review aus dem April 2010. Diese Blaupause für die künftige Nuklearpolitik der Regierung Obama sieht gegenüber der Planung der Vorgängerregierung Bush nur wenige Änderungen und somit eine umfassende Modernisierung vor. Dies ist sicher zu Teilen der Tatsache geschuldet, dass mit Verteidigungsminister Gates und dem Leiter der National Nuclear Security Administration (NNSA)[ 15 ], Thomas d’Agostino, entscheidende Personen aus der Bush-Administration in die Obama-Administration übernommen wurden, die qua Amt großen Einfluss auf die Nuklearwaffenplanung der USA haben. Das sollte der Absicherung der Ratifizierung des neuen START-Vertrages dienen. Um sie zu garantieren, waren mindestens acht Stimmen aus dem republikanischen Lager nötig. Die folgende Beschreibung der Planung für das nukleare Potential der USA fußt auf dem NPR 2010 und ergänzt diesen aus aktuelleren Quellen.

Die Konsequenzen aus dem neuen START-Vertrag sollen umgesetzt werden. Voruntersuchungen der Optionen für weitere Abrüstungsgespräche mit Russland sind geplant. Die USA werden an ihrer Triade aus see- land und luftgestützten nuklearen Trägersystemen festhalten und diese nur wenig verändern. Bis zu 420 Interkontinentalraketen, bis zu 60 strategische Bomber und 12 jeweils einsetzbare strategische Raketen-U-Boote mit 240 Trident-Raketen werden künftig aktiv im Dienst stehen, wenn die Obergrenzen des neuen START-Vertrages ab 2018 eingehalten werden müssen.[ 16 ]

Die bereits begonnene Reduzierung der Sprengkopfzahl auf den landgestützten Interkontinentalraketen vom Typ Minuteman III (von 3 auf 1) soll weitergeführt und abgeschlossen werden. An den gegenwärtig 14 strategischen Raketen-U-Booten der Ohio-Klasse wird zunächst festgehalten. Im kommenden Jahren soll es eine Entscheidung fallen, ob zwei dieser U-Boote gegen Ende dieses Jahrzehntes außer Dienst gestellt werden. Infolge des neuen START-Vertrages wird jedes Boot künftig nur noch 20 statt 24 Raketen tragen.

Der NPR und die Anhörungen zum neuen START-Vertrag ermöglichten zudem einen tiefen Blick in die gegenwärtige Planung zur Modernisierung der U.S.-Nuklearstreitkräfte in den nächsten Jahrzehnten. Diese lässt nicht erkennen, dass die USA Obamas Vision einer Welt ohne Atomwaffen ernsthaft anstreben. Vielmehr wird eine umfassende Modernisierung aller Trägersysteme und aller Sprengköpfe angestrebt, damit diese bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts im Dienst gehalten werden können.

Die Interkontinentalraketen vom Typ Minuteman III werden noch einmal umfassend modernisiert, sodass sie bis 2030 in Dienst gehalten werden können. Obwohl ihre Sprengkopfzahl auf je einen reduziert wird, soll die Fähigkeit erhalten bleiben, sie auch mit Mehrfachsprengköpfen auszustatten. Vorgesehen ist, in diesem oder dem nächsten Jahr mit Untersuchungen für eine Nachfolgerakete zu beginnen.

Die Entwicklung eines Raketen-U-Boots (SSBN-X) neuer Generation ist angelaufen. Ab 2019 soll es gebaut und 2026 fertiggestellt werden. Mit der neuen, zwölf U-Boote mit je 16 Raketen umfassenden U-Boot-Klasse soll eine „ununterbrochene strategische Abschreckung bis in die 2080er Jahre“ sicher gestellt werden.[ 17 ] Die Trident-D5-Raketen der U-Boote werden derzeit modernisiert und sollen bis 2042 an Bord sowohl der Ohio-Boote als auch der künftigen U-Boot-Klasse im Dienst bleiben. Bis 2012 werden die ersten 108 Raketen beschafft.

Die Zahl der Langstreckenbomber mit nuklearen Aufgaben könnte noch einmal reduziert werden, um die Obergrenzen des neuen START-Vertrages einzuhalten.[ 18 ] Die B-52H Bomber sollen bis 2030 in Dienst gehalten werden, die B-2-Bomber womöglich darüber hinaus. Derzeit laufen Studienarbeiten, um einen neuen Strategischen Bomber zu entwickeln. Geplant wird zudem ein Nachfolger für die luftgestützten Marschlugkörper (ALCM) der U.S.-Luftwaffe, die ebenfalls 2030 voraussichtlich das Ende ihrer Lebensdauer erreichen.

Von der Entscheidung, alle wesentlichen Modernisierungsvorhaben im Bereich der nuklearen Trägersysteme weiterzuführen und Nachfolgesysteme zu entwickeln bzw. einzuführen, geht ein deutliches Signal aus: Washington plant, langfristig an seinen Nuklearwaffen festzuhalten. Sie sollen modern und einsatzfähig gehalten werden und dazu dienen, die Abschreckung aufrecht zu erhalten bzw. die Interessen der USA durchsetzen zu können. Am deutlichsten wird das bei der seegestützten Komponente des nuklearen Dispositivs. Hier reicht die Zeitperspektive bereits heute bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts.

Der Nuclear Posture Review sieht auch die Modernisierung aller Nuklearsprengkopftypen vor, die die USA derzeit noch aktiv vorhalten. Diese bleiben, wenn sie modernisiert oder einer umfassenden Lebensdauerverlängerung unterzogen werden, in der Regel für weitere 30 Jahre einsetzbar. Derzeit werden bis 2017 die W-76-Sprengköpfe für die Trident-II-D5 Rakete modernisiert (W76-1). Nach Anlaufschwierigkeiten wird die neue Version nun produziert und soll bis 2018 vollständig an die U.S.-Navy ausgeliefert werden. Ein umfassendes Modernisierungsprogramm ist auch für die Familie der B-61-Bomben vorgesehen (s.u.). Vorarbeiten für eine Modernisierung der Sprengköpfe für die Minuteman-III-Interkontinentalraketen (W78) sind angelaufen. Bis 2016 ist dafür etwa 1 Mrd.$ eingeplant. Ergebnis soll ein moderner hochsicherer Sprengkopf sein, der möglicherweise sowohl auf Interkontinentalraketen als auch an Bord U-Boot-gestützter Raketen eingesetzt werden kann. Produziert werden soll er zwischen 2021 und 2025. Mögliche künftige Gemeinsamkeiten mit den W-88 Sprengköpfen der Trident-Raketen werden untersucht. Die Sprengköpfe vom Typ W88 sollen 2018-20 neue Zünd- und Sicherheitseinrichtungen bekommen. Modernisierungspläne bestehen auch für Sprengköpfe der ALCMs (W80-2), die strategischen Bomben vom Typ B83-1 und den Raketensprengkopf W87. Die U.S.-Navy entwickelt zudem einen gegen Radioaktivität gehärteten GPS-Empfänger für Wiedereintrittsflugkörper, der nötig wäre, um atomare Sprengköpfe in der Endphase ihres Fluges manövrier- und lenkbar zu machen.[ 19 ]

Um diese Projekte umsetzen zu können, werden substantielle Investitionen in den militärisch-nuklearindustriellen Komplex befürwortet und getätigt, die eine Modernisierung oder den Neubau etlicher Anlagen ermöglichen sollen. Die Haushaltsmittel, die Barack Obama für die Aufrechterhaltung und Modernisierung des U.S.-Nuklearwaffenpotentials beantragte, sind deutlich höher als zu Zeiten George W. Bushs. Sie weisen große Steigerungsraten auf. Das dafür beantragte Budget der NNSA wuchs für 2011 um fast 10% und für 2012 erneut um 8,4%. Die NNSA plant, in den kommenden zehn Jahren über 92 Mrd. Dollar in die Erhaltung und Modernisierung nuklearer Sprengköpfe und deren Produktionsanlagen zu investieren.[ 20 ]

Das unter George W. Bush eingeführte Konzept der „neuen Triade“ und einer Abschreckung, die künftig aus einer nuklearen Komponente, Raketenabwehrsystemen und konventionellen Langstreckenwaffen bestehen soll, wurde von der Obama-Administration übernommen und weiterentwickelt. Es soll nunmehr auch auf regionale Abschreckungssysteme, also auf Europa und die NATO, den Nahen und Mittleren Osten sowie auf den Fernen Osten (Südkorea, Japan) übertragen werden.

Regionale Sicherheitsarchitekturen, zu denen eine effiziente Raketenabwehr, Fähigkeiten, den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu bekämpfen, konventionelle Fähigkeiten zur Machtprojektion und eine integrierte Kommandostruktur gehören, seien „entscheidend, wenn man sich auf eine Welt ohne Nuklearwaffen zu bewegt“, heißt es im NPR. Dieser Gedanke findet sich auch im Ballistic Missile Defense Review (BMDR) 2010, einem weiteren Planungspapier aus dem Pentagon. Dort stellt die Regierung Obama ausführlich dar, wie sie sich den stufenweisen Ausbau einer Raketenabwehr in Europa im kommenden Jahrzehnt vorstellt, und argumentiert für einen konditionalen Zusammenhang zwischen einer Stärkung der Raketenabwehr und einer verringerten Rolle nuklearer Waffen: „Gegen nuklear bewaffnete Staaten wird die regionale Abschreckung notwendigerweise auch [künftig] eine nukleare Komponente erfordern. Aber die Rolle der U.S.-Atomwaffen in diesen regionalen Abschreckungsstrukturen kann durch eine Stärkung der Rolle der Raketenabwehr und anderer Fähigkeiten reduziert werden.“ [ 21 ]

Der NPR erlaubt schließlich auch einen Blick auf die Zukunft der nuklearen Kräfte der USA, die zum Dispositiv der NATO-Nuklearabschreckung gehören. Diese bestehen künftig aus zwei statt drei Komponenten. Der NPR macht dafür die folgende planerische Vorgaben:

  • Die etwa 100 verbliebenen seegestützte Marschflugkörper vom Typ Tomahawk, die die USA noch eingelagert haben, werden außer Dienst gestellt werden. Diese Komponente entfällt künftig.
  • Die strategischen Raketen-U-Boote mit ihren Trident-II-Raketen bleiben – wie bereits geschildert - erhalten. Auch Großbritannien plant mit technischer Hilfe aus den USA, eine neue Generation Raketen-U-Boote zu bauen und wird modernere, technisch an den W-76-1 angelehnte Sprengköpfe für diese Raketen einführen. Die seegestützte strategische Komponente des nuklearen Dispositivs der NATO wird somit auf Jahrzehnte modern gehalten.
  • Der NPR sieht zudem eine umfassende Modernisierung der substrategischen Nuklearwaffen vor. Als neues Trägersysteme soll eine nuklearfähige Version des Joint Strike Fighters entwickelt und eingeführt werden.[ 22 ] Die in Europa gelagerten substrategischen Atombomben der Versionen B-61-3 und B-61-4 sollen zusammen mit der strategischen Version B-61-7 durch ein neues Modell, die B-61-12, abgelöst werden. [ 23 ] Dieses soll ab 2017/18 als Bewaffnung für Jagd- und Langstreckenbomber bereit gestellt werden. Der bisher bestehende Unterschied zwischen substrategischen und strategischen Versionen der B-61 würde mit dieser neuen Version hinfällig.

Dieses Modernisierungsvorhaben zeigt ein weiteres Problem auf: Das Vorhaben wird jetzt als Lebensdauerverlängerungsmaßnahme bezeichnet, war aber zu Zeiten George W. Bushs Teil der Planung für eine neue Generation verlässlicher Ersatzsprengköpfe (Reliable Replacement Warheads). Die Bomben vom Typ B-61 sollen weit umfassender modernisiert werden als dies normalerweise im Rahmen von Lebensdauerverlängerungsmaßnahmen geschieht. Vier Wochen nach Veröffentlichung des NPR beantragte die NNSA bereits eine Erhöhung der für dieses Vorhaben vorgesehenen Haushaltmittel. Rund 19 der zusätzlich beantragten Millionen sollen dazu dienen, die Machbarkeit einer Modernisierung der nuklearen Komponenten der Bomben zu untersuchen, die der Kongress zuvor unter Vorbehalt gestellt hatte. Das Vorhaben schließe ein, „den Primary (primären Fusionssprengsatz) der B-61 neu aufzubauen, ein vorhandenes Pit (den nuklearen Kern) der B-61 wiederzuverwenden sowie das canned subassembly (mit der Zwischenstufe und dem Secondary, dem sekundären nuklearen Fissionssprengsatz) der B61 entweder wiederzuverwenden oder neu aufzubauen.“[ 24 ] Arbeiten an den nuklearen Komponenten sind nur zulässig, wenn der Präsident ihnen explizit zustimmt und dadurch entweder die Handhabungssicherheit (surety) oder die Sicherheit (security) der Waffe gesteigert bzw. die Notwendigkeit nuklearen Testens verringert werden kann.[ 25 ]

Explizit hält der NPR jedoch auch fest: „Die Vereinigten Staaten werden keine neuen Nuklearsprengköpfe entwickeln und auch keine neuen militärischen Aufgaben oder neue Fähigkeiten für Nuklearwaffen verfolgen.“ Zwischen dieser Aussage und der umfassenden Modernisierung der Bomben der B-61-Familie baut sich eine Spannung auf: Hier die politische Zielvorgabe und dort das technische Resultat des Modernisierungs. Bislang wurde  nicht klar, ob sich die B61-12 überhaupt oder wesentlich von jener Version des Reliable Replacement Warheads unterscheiden wird, die unter George W. Bush die B-61-Bomben ersetzen und Teil einer neuen Generation nuklearer Waffen sein sollte. Die Zukunft wird also zeigen, wie „neu“ lebensdauerverlängerte Nuklearwaffen sein können, ohne als „neue“ Nuklearwaffe oder als Nuklearwaffe mit „neuen“ Fähigkeiten klassifiziert zu werden.

Die Entscheidung Obamas, praktisch alle schon unter George W. Bush geplanten Modernisierungsvorhaben weiter zu unterstützen, hatte sicher auch innenpolitische und taktische Gründe. Sie folgte den Vorgaben des Kongresses im Haushaltsgesetz 2010. Sie sollte die Angriffsfläche für die Opposition reduzieren, von der erwartet wurde, dass sie Obama den Vorwurf machen würde, die Sicherheit der USA zu gefährden. Hinzu kam die Notwendigkeit, zumindest einige Republikaner für ein Votum zugunsten des neuen START-Vertrag zu gewinnen.

Trotz dieser nachvollziehbaren taktischen Motive stehen die Entscheidungen über die Zukunft der Trägersysteme und der Nuklearwaffen in einem klarem Kontrast zu den Veränderungen in der deklaratorischen Nuklearpolitik und vor allem zu Obamas Vision einer nuklearwaffenfreien Welt. Sie vermitteln den Eindruck, als sei das Ziel einer atomwaffenfreien Welt allenfalls eine Vision für das 22. Jahrhundert und keinesfalls in den nächsten 50 oder 70 Jahren erreichbar. Eindeutig Vorrang hat für die absehbare Zukunft die Aufrechterhaltung eines hochmodernen Nuklearwaffenpotentials, das dem aller anderen Staaten auch noch auf Jahrzehnte klar und deutlich überlegen sein soll.



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