Research Report 00.2
März 2000
ISBN 3-933111-05-6

 

Nur eine Frage der Verfügungsgewalt? Die neue NATO-Strategie, der Nichtverbreitungsvertrag und die Nukleare Teilhabe

von Otfried Nassauer

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Inhaltsverzeichnis:

 

1. Zusammenfassende Einführung  

Nur wenige Wochen vor Beginn der Überprüfungskonferenz für den Nichtverbreitungsvertrag (NVV) – hierzulande oftmals besser bekannt als Atomwaffensperrvertrag - im April 2000 wird deutlich, daß die NATO und Rußland, die Funktion nuklearer Waffen in ihren Militärstrategien deutlich erweitern wollen. Nuklearwaffen sollen künftig nicht länger nur zur Abschreckung und Bekämpfung nuklear bewaffneter Gegner dienen. Sie sollen auch gegen die Besitzer und Anwender biologischer und chemischer Waffen gerichtet werden. Damit gewinnen Atomwaffen erstmals nach dem Ende des Kalten Krieges wieder an Bedeutung. Nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung dagegen müssen künftig möglicherweise mit dem Vorrang der Counter-Proliferation leben. Eine solche Entwicklung stünde in klarem Widerspruch zu den erklärten Zielen bundesdeutscher Außenpolitik und des deutschen Außenministers, Joschka Fischer.

Rechtzeitig vor der Überprüfungskonferenz für den NVV am 24. April 2000, so die derzeitige Planung, soll der NATO-Rat auf Botschafterebene ein neues militärisches Strategie-Dokument politisch billigen, in dem den Nuklearwaffen der NATO die erweiterte Funktion zugewiesen wird. Von öffentlicher Diskussion durch Geheimhaltung abgeschirmt, sollen alle NATO-Staaten noch vor der Konferenz auf eine Position eingeschworen werden, die bislang nur von den USA als nationale Strategie gebilligt wurde.

Diese Entscheidung gefährdet die Zukunft des NVV, des einzigen so gut wie weltweit gültigen Rüstungskontrollvertrages. Sie würde

  • die Rolle, vor allem die militärische Rolle, nuklearer Waffen in der NATO stärken;

  • die Möglichkeit eines Ersteinsatzes nuklearer Waffen auf Dauer zu einem unverzichtbaren Bestandteil der NATO-Strategie machen;

  • das Ergebnis der laufenden Überprüfung der nuklearen Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik der NATO negativ präjudizieren und diese Überprüfung zur Makulatur werden lassen;

  • die nuklearen und nicht-nuklearen Mitglieder der NATO in klaren Widerspruch zu ihren Verpflichtungen aus dem NVV bringen; beide kündigen mit der geplanten Änderung der NATO-Strategie ihre Bereitschaft zur Verletzung ihrer Vertragspflichten an;

  • die Überprüfungskonferenz des NVV schwer belasten und möglicherweise zu deren Scheitern beitragen;

  • und das nukleare Nichtverbreitungsregime schwächen oder gar irreparabel schädigen.

Diese Forschungsnotiz plädiert dafür

  • auf die geplante Erweiterung der Funktion nuklearer Waffen in der NATO-Strategie (und natürlich auch in der neuen russischen Militärdoktrin) zu verzichten;

  • daß alle nicht-nuklearen Mitglieder der NATO zugunsten der Stärkung des NVV künftig auf die technische Fähigkeit zum Einsatz nuklearer Waffen im Rahmen der nuklearen Teilhabe des Bündnisses verzichten;

  • daß die verbliebenen sub-strategischen Nuklearwaffen der USA aus Europa abgezogen werden;

  • daß die Mitgliedstaaten der NATO eine Erklärung der NVV-Überprüfungskonferenz mittragen, die klarstellt, daß der NVV auch in Kriegszeiten in allen seinen Aspekten für alle seine Unterzeichner bindend bleibt;

  • das militärische Strategiekonzept der NATO öffentlich zugänglich zu machen und somit einen Beitrag zu Vertrauensbildung und Transparenz zu leisten;

  • und zumindest die Verabschiedung eines neuen militärischen Strategiekonzeptes zu vertagen, bis die Ergebnisse der Überprüfung der nuklearen Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik vorliegen.

 

2. Der Sachstand

Im April 1999 verabschiedete die NATO während ihres Gipfeltreffens in Washington ein neues Strategisches Konzept. In der Folge erarbeiteten die militärischen Gremien des Bündnisses den Entwurf eines neuen militärischen Strategiedokumentes. Es trägt die (Arbeits)Bezeichnung MC 400/2 und stellt eine Neubearbeitung der „Direktive des Militärausschusses zur Militärischen Implementierung der Strategie der Allianz" (MC 400/1) aus dem Jahre 1996 dar. Verantwortlich für die Erarbeitung zeichnete der Militärausschuß (Military Committee - MC), das höchste militärische Gremium des Bündnisses. Er hat seine Arbeit an dem Dokument abgeschlossen.

Dokumente des Militärausschusses werden für alle Allianz-Mitglieder verbindlich, wenn sie politisch gebilligt sind (political approval). Nach einer politischen Überprüfung (silent procedure) geschieht dies in der Regel in zwei Schritten: Zunächst wird der Ständige NATO-Rat, also die NATO-Botschafter, mit dem Dokument befaßt. Erheben sie keinen Einspruch, wird der NATO-Rat auf Ministerebene bei einer seiner halbjährlichen Sitzungen einbezogen. Er nimmt die Entscheidung der Botschafter zustimmend zur Kenntnis und setzt das entsprechende Dokument damit in Kraft.

Der Entwurf für das Dokument MC 400/2 steht am Ende der „silent procedure". Noch im März soll es an den Ständigen NATO-Rat übermittelt werden. Angestrebt wird, die politische Billigung durch die NATO-Botschafter noch vor Beginn der Überprüfungskonferenz für den NVV im April zu erreichen. Dann müßten bei der NATO-Ratstagung am 24./25. Mai in Florenz nur noch die Außenminister der Allianz ihre Zustimmung geben – eher eine Formalie, wenn die Botschafter bereits zugestimmt haben – und das Dokument tritt in Kraft.

Die in Washington gebilligte neue NATO-Strategie hält fest:

„41. (...) Durch die Abschreckung des Einsatzes von ABC-Waffen tragen sie [die Streitkräfte der Allianz – ON] zu den Bemühungen des Bündnisses um die Verhinderung der Verbreitung dieser Waffen und ihrer Trägermittel bei."

Die Formulierung spricht nicht ausdrücklich auf die Nuklearstreitkräfte der Allianz an, sie schließt diese aber auch nicht explizit aus, da sie Teil der Streitkräfte der Allianz sind. Jene in der NATO, die auf eine erweiterte Rolle und Funktion nuklearer Waffen bei Abschreckung und Bekämpfung jedweder anderer Besitzer von Massenvernichtungswaffen setzen, können diese Formel als Einfallstor für ihre Ziele nutzen und versuchen, eine solche erweiterte Rolle in der gewöhnlich detaillierteren und expliziteren militärischen Strategie der Allianz zu verankern. Die MC 400/2, das wichtigste militärstrategische Dokument, wäre geeignet, dort eine solche Festschreibung zu verankern. Es hat zudem den zweifelhaften „Vorteil", unter Geheimhaltung zu stehen. Damit ist es zumindest einer qualifizierten, öffentlichen Überprüfung und Diskussion seiner Aussagen entzogen. In manchen NATO-Staaten bleiben solche Dokumente auch für die zuständigen Parlamentsabgeordneten unzugänglich. Ihre politische Billigung wird damit der parlamentarischen Kontrolle entzogen.

Im nächsten Absatz des Strategischen Konzeptes der NATO heißt es:

„42. Die Verwirklichung der Bündnisziele steht und fällt mit einer fairen Teilung der Aufgaben, Risiken und Verantwortlichkeiten wie auch der Vorteile gemeinsamer Verteidigung."

Als Bestandteil der „faire(n) Teilung von Aufgaben, Risiken und Verantwortlichkeiten" im Bündnis wird seit je her auch die nukleare Teilhabe betrachtet zu der es gehört, daß auch die nicht-nuklearen Staaten das Risiko nuklearer Bedrohung, die Verantwortlichkeit für die nukleare Planung der Allianz und Aufgaben bei der Umsetzung der NATO-Nuklearstrategie übernehmen.

Etliche Hinweise sprechen dafür, daß mit dem vorliegenden Entwurf der MC 400/2 der Versuch unternommen wird, nuklearen Waffen eine erweiterte Rolle gegen die Besitzer biologischer und chemischer Waffen zuzuschreiben.

Die britische Nachrichtenagentur Reuters meldete, in der neuen Militärstrategie werde „eine geeignete Zusammensetzung von Streitkräften" für erforderlich gehalten, wenn die NATO sich mit einer biologischen und chemischen Bedrohung konfrontiert sehe. Eine klassische Formel der Allianz, wenn von nuklearen und konventionellen Kräften die Rede ist.

Der Spiegel berichtete, ein NATO-General habe bestätigt, daß die Allianz sich den Einsatz nuklearer Waffen künftig auch gegen die Besitzer biologischer und chemischer Waffen vorbehalte und die Drohung mit dem Einsatz nuklearer Waffen für unverzichtbar erklärt, „weil wir sonst nichts haben".

In einem Hintergrundgespräch sagte ein ranghoher NATO-Diplomat: „Darüber ist nicht viel diskutiert worden. Es wird generell akzeptiert, daß die beste Abschreckung die ist, bei der der potentielle Gegner ständig raten muß (wie die Allianz (re)agieren wird). Es hat deshalb nie eine Entscheidung gegeben, einen solchen Einsatz auszuschließen."

Diese Aussagen werden durch eine Reihe weiterer Hintergrundgespräche (off the record) bestätigt, die der Autor dieser Forschungsnotiz mit Offizieren und Diplomaten führte. Die Option eines Einsatzes nuklearer Waffen gegen die Besitzer von Massenvernichtungswaffen aller Art sowie geeigneter Trägersysteme wird von der NATO im Entwurf ihrer neuen Militärstrategie offengehalten. Sie wird damit zu einer legitimen Grundlage militärischer Planung.

Für die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme von eher vagen – politisch gebilligten - Formeln, die den Einsatz nuklearer Waffen auch gegen die Besitzer biologischer und chemischer Waffen zuläßt oder zumindest nicht ausschließt, spricht vor allem, daß die Staaten der NATO sie unterschiedlich auslegen können. Die Befürworter eines solchen Einsatzes können sagen, er sei politisch gebilligt und zulässig; die Gegner können argumentieren, ein solcher Einsatz sei in der NATO-Strategie nicht explizit vorgesehen, völlig unrealistisch oder auch gar nicht beabsichtigt. Ähnlich steht es um den Ersteinsatz nuklearer Waffen. Auch er wird in den öffentlichen und nicht-öffentlichen Strategiedokumenten des Bündnisses nicht ausdrücklich erwähnt, sondern lediglich nicht ausgeschlossen.

Vage Formeln haben zudem den Vorteil, eine weitere Frage letztlich der Interpretation zu überlassen: Welche Rolle haben Nuklearwaffen? Sind sie letztlich politische Waffen, die lediglich abschrecken sollen, deren Einsatz nur im äußersten Notfall ventiliert würde? Oder sind sie letztlich auch militärische Mittel, Waffen deren Einsatz im Krieg dem Erreichen (begrenzter) militärischer Ziele dient. In der ersten Funktion werden Nuklearwaffen von den meisten nicht-nuklearen europäischen NATO-Staaten gesehen; die zweite Funktion wird vor allem von amerikanischen Militärs vertreten.

Die politische Funktion nuklearer Waffen wird im Abschnitt 46 des Strategischen Konzeptes der NATO beschrieben:

„46. Um den Frieden zu wahren und einen Krieg und auch jegliche Form von Zwang zu verhindern, wird das Bündnis für die vorhersehbare Zukunft eine geeignete Zusammensetzung nuklearer und konventioneller Streitkräfte beibehalten, die in Europa stationiert sind und auf dem gebotenen Stand gehalten werden, wo dies erforderlich ist, wenngleich auf dem geringstmöglichen ausreichenden Niveau. Angesichts der Vielfalt der Risiken, denen sich das Bündnis gegenübersehen könnte, muß es die Streitkräfte beibehalten, die zur Gewährleistung einer glaubwürdigen Abschreckung erforderlich sind und ein breites Spektrum konventioneller Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Aber die konventionellen Streitkräfte des Bündnisses allein können eine glaubwürdige Abschreckung nicht gewährleisten. Einzig Nuklearwaffen machen die Risiken jeglicher Aggression unkalkulierbar und unannehmbar. Sie sind daher nach wie vor von entscheidender Bedeutung für die Wahrung des Friedens."

Die Umstände, in denen die Allianz einen Einsatz nuklearer Waffen erwägen würde, werden zudem als „äußerst unwahrscheinlich" (extremely remote) bezeichnet.

In Formulierungen wie diesen finden die Anhänger einer rein politischen Funktion nuklearer Waffen Bestätigung. Umgekehrt proportional zu ihrer praktischen Bedeutung findet man dagegen in den öffentlichen Verlautbarungen der Allianz kaum Hinweise auf die militärische Funktion nuklearer Waffen. Jene, die Nuklearwaffen auch eine militärische Rolle zuweisen, verwiesen in der Regel auf Formulierungen, denen zufolge die Allianz sich auf alle Eventualitäten, und seien sie auch noch so unwahrscheinlich, vorbereitet zeigen müsse. Für die Bedeutung und das Gewicht ihrer Interpretation sprechen aber die praktischen militärischen Schritte, die das Bündnis unternimmt, um auf den Einsatz nuklearer auch künftig vorbereitet zu sein.

wird in die Aufklärung, Identifizierung und Lokalisierung von potentiellen Zielen aus dem Bereich „Verbreitung von Massenvernichtungswaffen" investiert. Produktionsanlagen für diese Waffen, ihre Trägersysteme und wichtige Komponenten, die Infrastruktur zu deren Lagerung, Führungseinrichtungen und viele andere Einrichtungen kommen ins Visier der Planer. Alle diese potentiellen Ziele werden in eine gemeinsame Datenbank eingespeist, die zudem durch Erkenntnisse aus den NATO-Mitgliedstaaten ergänzt wird. Die feste Zielplanung der NATO aus Zeiten des Kalten Krieges – für alle potentiellen Ziele nuklearer Waffen im Warschauer Pakt und der Sowjetunion gab es vorgeplante nukleare Einsatzoptionen - hat sich überlebt. An ihre Stelle tritt nun eine flexibel anpaßbare, nukleare Zielplanung (adaptive nuclear targeting), die es den wichtigsten Stäben und NATO-Kommandeuren erlaubt, jederzeit und ad hoc in kürzester Zeit eine konkrete nukleare (und natürlich auch konventionelle) Zielplanung zur Bekämpfung eines Gegners, der im Besitz von Massenvernichtungswaffen ist, abzuleiten und auf Basis der Datenbank in konkrete nukleare Einsätze umzusetzen.

Der Arbeits- und Investitionsaufwand für diese Umorientierung ist enorm. Es darf mit einigem Recht vermutet werden, daß der Aufbau dieser flexiblen Zielplanungsmöglichkeiten heute mehr Ressourcen erfordert, als für die Aufrechterhaltung der nuklearen Zielplanung gegen Ende des Kalten Krieges nötig waren. Es darf sogar spekuliert werden, ob die Zahl potentieller Ziele für Nuklearwaffen heute größer ist als in den späten achtziger Jahren. Die Zahl der Länder, die der Proliferation verdächtig sind, ist groß.

Die Grundzüge dieser neuen Entwicklungen wurden in den USA erarbeitet. und in der nationalen Strategie der USA bereits implementiert. Die NATO vollzieht diese zu Teilen nach. Eine nachholende Entwicklung kennzeichnet auch historisch betrachtet das Verhältnis von nationaler US-Strategie und NATO-Strategie.

 

3. Nuklearwaffen in der nationalen Strategie der Vereinigten Staaten

In der nationalen Strategie der Vereinigten Staaten haben sich Funktion und Aufgabe nuklearer Waffen nach dem Ende des Kalten Krieges deutlich verändert. Im Nachgang zum Golfkrieg - der Gegner Irak hatte aktive atomare, biologische und chemische Waffenprogramme – wurde zunächst die Bedrohung durch solche Waffen erheblich stärker betont. Bald führte dies zu einer signifikanten Veränderung im amerikanischen sicherheitspolitischen Denken: Der Verhinderung von Proliferation, der „non-proliferation", wurde die Bekämpfung der Proliferation, „counter-proliferation", zur Seite gestellt. Diese wurde in defensive und offensive sowie in diplomatische und rüstungskontrollpolitische Maßnahmen und militärische Maßnahmen untergliedert. Einerseits wurde an einem verbesserten Schutz amerikanischer Soldaten bei Einsätzen wie jenem am Golf gearbeitet. Andererseits begann das Nachdenken darüber, wie die militärische Vergeltung gegen einen Einsatz von solchen Waffen ausgestaltet werden könne, aber auch, wie sich ein solcher Einsatz präventiv verhindern ließe. Dabei bürgerte sich bald eine rüstungskontrollrechtlich und militärisch nicht ganz unproblematische Sprachregelung ein: Von atomaren, biologischen und chemischen Waffen wurde verallgemeinernd als von Massenvernichtungswaffen gesprochen. Offensive militärische Counter-proliferation wurde als Einsatz von Waffen gegen all diese verschiedenen Arten von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme beschrieben. Ab 1993 häufen sich Situationen, in denen hochrangige Mitglieder der Clinton-Administration, explizit nicht ausschließen wollen, daß die USA in diesem Kontext auch nukleare Waffen einsetzen würden. Die nationale Sicherheitsstrategie des amerikanischen Präsidenten aus dem Jahre 1995 hält fest:

Die Vereinigten Staaten werden die Fähigkeit vorhalten, um gegen jene, die mit dem Gedanken an den Einsatz von Massenvernichtungswaffen spielen könnten, in einer Weise Vergeltung üben zu können, die die Kosten eines solchen Einsatzes [in den Augen dessen, der ihn erwägt-ON] als deutlich schwerwiegender erscheinen läßt als den Nutzen. Um die Auswirkungen der Proliferation von Massenvernichtungswaffen auf unsere Interessen zu minimieren, benötigen wir nicht nur die Fähigkeit einen Einsatz gegen uns, unsere Alliierten und unsere Freunde abzuschrecken, sondern – wo erforderlich und machbar – die Fähigkeit, einen solchen Einsatz zu verhindern. Das erfordert verbesserte defensive Fähigkeiten. Um die Verletzbarkeit unserer Streitkräfte im Ausland durch Massenvernichtungswaffen zu minimieren, legen wir eine hohe Priorität darauf, unsere Fähigkeiten zur Ortung, Identifizierung und Ausschaltung von Arsenalen an Massenvernichtungswaffen sowie deren Produktions- und Lagerstätten und ihren Trägersystemen zu verbessern."

Mit keinem Wort wird in diesem politischen Strategie-Dokument explizit auf die Möglichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes gegen die Besitzer biologischer oder chemischer Waffen angesprochen, und doch wird ein solcher Text von den militärischen Planern genau so und nicht anders gelesen. Dies wird deutlich, wenn man verfolgt, wie solche Formulierungen aus bedeutenden politischen Dokumenten in den Folgejahren in die militärische Doktrin der USA, in die Dienstvorschriften der Vereinten Stabschefs (Joint Chiefs of Staff) übersetzt und integriert wurden. In der Dienstvorschrift zum Einsatz taktisch-nuklearer Waffen heißt es nur ein Jahr später:

Der Zweck der Nuklearstreitkräfte der USA besteht darin, zur Abschreckung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen beizutragen. Diese Streitkräfte schützen viele Verbündete und garantieren deren Sicherheit."

Wenig später heißt es:

„Unsere nationale Militärpolitik ist es zuallererst und vor allem, mittels starker konventioneller und nuklearer Fähigkeiten einen bewaffneten Angriff abzuschrecken. Hat die Abschreckung versagt, so müssen die Streitkräfte bereit sein, den Konflikt zu für die Vereinigten Staaten, deren Interessen und deren Alliierte günstigen Bedingungen zu beenden.
Der Zweck des Einsatzes nuklearer Waffen kann vom Erzwingen einer politischen Entscheidung bis zur Beeinflussung einer [militärischen – ON] Operation reichen."

Und einige Seiten weiter:

„Operationen müssen mit dem Ziel geplant und ausgeführt werden, die gegnerischen Trägersysteme für Massenvernichtungswaffen und die unterstützende Infrastruktur zu zerstören oder auszuschalten, bevor diese gegen die eigenen Kräfte zum Einsatz kommen können. Aus diesen Gründen sollten offensive Operationen gegen feindliche Massenvernichtungswaffen und deren Trägersysteme unternommen werden, sobald die Feindseligkeiten unausweichlich erscheinen oder beginnen".

Doch damit noch nicht genug. Die gleiche Dienstvorschrift zählt unter der Überschrift „Überlegungen für die Zielplanung" als wahrscheinliche Ziele nuklearer Waffen nicht nur Massenvernichtungswaffen und deren Trägersysteme im Besitz staatlicher Gegner auf, sondern auch „nicht-staatliche Akteure (Einrichtungen und Operationszentren), die Massenvernichtungswaffen besitzen".

Zweck dieser ausführlichen Zitate ist es nicht, den Eindruck zu erwecken, die nationale Strategie der USA sehe jederzeit oder fast zwangsläufig einen Nuklearwaffeneinsatz gegen die Besitzer biologischer oder chemischer Waffen vor. Dies darf als sehr unwahrscheinlich gelten. Vielmehr ist davon auszugehen, daß „bewußte Zweideutigkeit" mit dem Ziel, potentielle Besitzer und Benutzer von Massenvernichtungswaffen über die Reaktion der USA im Unklaren zu lassen, angestrebt wird. Zweck der Wiedergabe dieser Aussagen ist es vielmehr, deutlich zu machen, welche Überlegungen militärischerseits aus der fast harmlos und unverdächtig anmutenden, politisch gebilligten Sprache der Nationalen Sicherheitsstrategie abgeleitet werden konnten und wurden. Ein solches, politische Vorgaben extensiv interpretierendes Vorgehen der militärischen Seite ist keinesfalls ungewöhnlich. Es entspricht Aufgabe und Charakter professionellen militärischen Planens und Denkens.

Auch auf höchster politischer Ebene sind entsprechende Planungen mittlerweile nach übereinstimmenden Meldungen gebilligt - in der geheimen Präsidenten-Direktive Nr. 60 (Presidential Decision Directive 60, PDD60) aus dem Jahr 1997.

Seit geraumer Zeit sind die USA bemüht, ihren Verbündeten eine politische und militärische Strategie nahezulegen, die von einer ähnlichen Bedrohungsperzeption ausgeht und – zumindest – die nationale Strategie der USA nicht konterkariert und ihre Umsetzung nicht behindert. Über die Zeit, so die Annahme, werde sich die NATO-Strategie schrittweise an die Vorstellungen und Handlungsoptionen der Strategie der Führungsmacht anpassen.

Diese Annahme bestätigte das US-Verteidigungsministerium 1999 gegenüber dem amerikanischen Senator Harkin. Gefragt, ob die NATO-Verbündeten durch die Nukleare Planungsgruppe Einfluß auf die nationale Nuklearstrategie der USA nehmen könnten, antwortete das Pentagon:

"Die nationale US-Nuklearpolitik wird vom amerikanischen Präsidenten gemacht und in keiner Weise von den Alliierten beeinflußt. Realiter war das Gegenteil der Fall, da die USA als Ergebnis ihrer Führungsrolle und der Bereitstellung nuklearer Kräfte für die Allianz die Entwicklung und Weiterentwicklung der Nuklearpolitik der NATO stark beeinflußt. Die Nuklearpolitik der NATO befand sich, historisch betrachtet, im Einklang mit der Nuklearpolitik der Vereinigten Staaten." Zudem wird festgehalten: „Die Nukleardoktrin der USA gilt in gleicher Weise für alle US-Streitkräfte, gleich wo sie auf der Erde stationiert sind, und dies schließt die Streitkräfte in Europa ein".

 

4. Probleme mit dem NVV

Würde die NATO in ihrer Strategie Nuklearwaffen zur Abschreckung und Bekämpfung der Besitzer nicht nur nuklearer, sondern auch biologischer und chemischer Waffen sowie geeigneter Trägersysteme vorsehen, so schüfe die Allianz sich selbst und allen anderen Mitgliedern des NVV-Regimes schwerwiegende Probleme.

Ein Einsatz nuklearer Waffen durch die NATO-Staaten verstößt gegen die Artikel I und II des NVV, wenn dabei die nukleare Teilhabe zur Anwendung kommt und Flugzeuge nicht-nuklearer NATO-Staaten US-Nuklearwaffen zum Einsatz bringen. Die Verfügung über Nuklearwaffen würde dabei von einem Nuklearwaffenstaat an einen nicht-nuklearen Staat übergehen.

Die Nuklearwaffenstaaten der NATO würden zudem gegen die Negativen Sicherheitsgarantien (s.u.) verstoßen, die sie den nicht-nuklearen Staaten gegeben haben. Von diesen Garantien sind Staaten, die über biologische und chemische Waffen verfügen, nicht ausgenommen.

Eine Erweiterung der Aufgaben nuklearer Waffen in der NATO-Strategie führt deshalb zu einer Gefährdung des Erfolges der Überprüfungskonferenz sowie einer deutlichen Schwächung des Nichtverbreitungsregimes.

Diese Problematik wird auch in der NATO selbst gesehen. Ein hochrangiger NATO-Diplomat bestätigte in einem Hintergrundgespräch: „Das ist ein unangenehmes Thema, das man nicht so gerne diskutiert. Es wirft Fragen auf. Ich weiß. Wegen des NVV’s, die Negativen Sicherheitsgarantien...".

 

4.1. Verstößt die NATO gegen den NVV?

Ermöglicht die NATO den Einsatz nuklearer Waffen gegen die Besitzer aller Massenvernichtungswaffen und entsprechender Trägersysteme, so wird mit Sicherheit bei Planungen und Planspielen für solche Operationen streng darauf geachtet, daß sich möglichst viele NATO-Mitglieder an einem Einsatz beteiligen. Das gebietet einerseits die sicher umstrittene Legitimität eines solchen Einsatzes. Je mehr Nationen aus dem Kreis der 19 NATO-Staaten sich beteiligen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, Kritik an der Rechtmäßigkeit eines solchen Einsatzes unter breiter Beteiligung abwehren zu können. Andererseits geht es aber auch um die Solidarität innerhalb der Allianz, zu der das Teilen von Aufgaben, Risiken und Verantwortlichkeiten gehört. Der Einsatz einer Nuklearwaffe durch einen nicht-nuklearen NATO-Staat aber wäre in den meisten, wenn nicht gar in allen Fällen ein Bruch des NVV. Die politische Billigung für eine neue militärische Strategie der Allianz zu erteilen, die solche Einsätze androht, impliziert es, die eigene Bereitschaft zu einem künftigen Bruch des Vertrages anzukündigen.

Die nukleare Teilhabe der NATO besteht aus zwei Elementen, an denen unterschiedlich viele nicht-nukleare Staaten mitwirken. Zum einen partizipieren die nicht-nuklearen NATO-Mitglieder an nuklearer Planung, an Kommando, Kontrolle und Konsultationen über den Einsatz nuklearer Waffen. Dies geschieht im Rahmen ihrer Mitarbeit in der Nuklearen Planungsgruppe (NPG) sowie deren untergeordneten Arbeitsebenen. Auch wenn gelegentlich Kritik an der Beteiligung nicht-nuklearer Staaten an „Command and Control" über Nuklearwaffen laut wird, so liegt in den Konsultationsmechanismen der NATO wahrscheinlich kein Verstoß gegen Wortlaut oder Geist des NVV. Im Rahmen ihrer Mitarbeit in der NPG können die nicht-nuklearen Staaten keinen Nuklearwaffeneinsatz anordnen; diese Entscheidung liegt allein bei den Staats- und Regierungschefs der Nuklearmächte, insbesondere beim Präsidenten der Vereinigten Staaten. Aus der Tatsache, daß nicht-nukleare Staaten zu ihrer Position über einen möglichen Nuklearwaffeneinsatz und dessen Form und Details, wie z.B. die Zielplanung, befragt und konsultiert werden, muß nicht unbedingt eine Verletzung des NVV abgeleitet werden. Selbst, wenn sie – wie verschiedentlich berichtet – das Recht hätten, den Einsatz nuklearer Waffen durch die NATO zu verhindern, so wäre eine solche Entscheidung vermutlich kein Verstoß gegen den NVV, sondern eher eine Handlung im Geiste des Vertrages.

Ganz anders verhält es sich mit dem zweiten Element der nuklearen Teilhabe. Sechs nicht-nukleare Staaten in Europa – Belgien, Deutschland, Griechenland, Italien, die Niederlande und die Türkei – verfügen in technischer Hinsicht über alle erforderlichen Mittel, um amerikanische Nuklearwaffen während eines Krieges einsetzen zu können. Sie halten konventionell und nuklear nutzbare Flugzeuge (dual capable aircraft - DCA) mit technischer Sonderausstattung bereit, sie haben für den Nuklearwaffeneinsatz geschulte, voll ausgebildete und regelmäßig überprüfte Piloten. Zwischen diesen Staaten und den USA wurden sogenannte „Programs of Cooperation" einschließlich einer großen Zahl technisch-militärischer Detailabkommen abgeschlossen, die die für Überstellung, Handhabung, Behandlung, Einsatz nuklearer Waffen erforderlichen Informationen und technischer Geräte regeln. Auf einem Fliegerhorst in jedem dieser Länder werden Nuklearwaffen aus den USA für den Einsatz durch die nicht-nuklearen NATO-Mitglieder gelagert. In Deutschland geschieht dies in Büchel.

Bis zu 180 freifallende Nuklearbomben des Typs B61-Modell 10 können in Europa gelagert sein; ein Teil davon befindet sich auf den erwähnten Flugplätzen der sechs nicht-nuklearen Staaten. Für Sicherheit und Kontrolle über diese Waffen sind amerikanische Soldaten zuständig. Im Frieden wird auf diese Weise sichergestellt, daß diese Waffen sich immer in der Verfügungsgewalt der USA befinden. Ohne die US-Soldaten, die auch die Sicherheitscodes für die Waffen verwahren und verwalten, ist ein Einsatz dieser Waffen nicht möglich.

Nach Freigabe eines NATO-Nuklearwaffeneinsatzes durch den amerikanischen Präsidenten können diese Waffen an Bord der Kampfflugzeuge des nicht-nuklearen NATO-Staates geladen werden und zum Einsatz durch die Besatzung des nicht-nuklearen Staates freigegeben werden. Rollt das Flugzeug an den Start bzw. ist es einmal in der Luft, ist die Verfügungsgewalt über diese Nuklearwaffen auf den nicht-nuklearen Staat und die Besatzung aus diesem Land übergegangen. Dies widerspricht dem Wortlaut von Artikel I und II des NVV. „Als Ergebnis der Selbstverpflichtung der NATO zur nuklearen Verteidigung werden die nicht-nuklearen Staaten der NATO im Endeffekt damit in Kriegszeiten zu Nuklearmächten". Mit diesen Worten beschrieb ein Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrates der USA bereits 1964 in einer eingestuften mittlerweile teilweise freigegebenen Bewertung die Nukleare Teilhabe der NATO.

Die Mehrheit der NVV-Vertragsparteien betrachtet die nukleare Teilhabe als Vertragsverletzung und über 100 neutrale und nicht-paktgebundenen Staaten haben 1998 und 1999 die NATO-Staaten aufgefordert, die nukleare Teilhabe aufzugeben. In einem Arbeitspapier schlugen sie vor, die Vertragsparteien sollten „ihre Verpflichtung erneut bestätigen", Artikel I und II des Vertrages „vollstmöglich zu implementieren", indem sie

„die nukleare Teilhabe für militärische Zwecke unter jeder Art von Sicherheitsarrangement untereinander, mit nicht-nuklearen Staaten und mit Staaten, die nicht Vertragsparteien sind, unterlassen."

Ägypten machte deshalb während der Vorbereitung der NVV-Überprüfungskonferenz 2000 bereits im vergangenen Jahr folgenden Vorschlag:

„Die Delegation Ägyptens schlägt vor, daß der Vorbereitungsausschuß die Überprüfungskonferenz 2000 auffordert, in klarer und unzweideutiger Form festzustellen, daß Artikel I und II des NVV keinerlei Ausnahmen zulassen und daß der NVV für die Vertragsparteien gleichermaßen in Friedenszeiten und in Kriegszeiten bindend ist.

Die NATO hält ihr Verhalten natürlich für vertragskonform. Die amerikanische Außenministerin Albright argumentierte noch 1997, daß die nukleare Teilhabe und die nuklearen Konsultationen der NATO in keiner Weise gegen die Regeln des NVV verstoßen.

„Diese Frage nach Artikel I des NVV und seinen Auswirkungen auf die nuklearen Kräfte der NATO wurde ausführlich während der Verhandlungen über den NVV debattiert. Alle Beteiligten haben akzeptiert, daß der Wortlaut von Artikel I keinesfalls die Art und Weise der Nuklearplanung, der Stationierung und die Konsultationsverfahren verbietet, die die NATO seit Inkrafttreten des NVV 1970 praktiziert."

Gegen die Position, daß die nukleare Teilhabe in voller Übereinstimmung mit dem NVV steht und dies während der NVV-Verhandlungen von allen Beteiligten akzeptiert wurde, sind erhebliche Zweifel angebracht. Die meisten Mitglieder des NVV haben den Vertrag aller Wahrscheinlichkeit nach unterzeichnet, ohne zu wissen, was unter der nuklearen Teilhabe der NATO im Einzelnen zu verstehen war, zumindest aber ohne zu wissen, wie die NATO das Verhältnis von NVV und nuklearer Teilhabe interpretierte.

 

4.2. Aus der Trickkiste der Diplomatie

Während der Vertragsverhandlungen hatte Washington tief in die diplomatische Trickkiste gegriffen, um die nukleare Teilhabe und den NVV in scheinbare Übereinstimmung zu bringen und möglicherweise sogar in teilweise betrügerischer Absicht verhandelt.

Die These, NVV und nukleare Teilhabe befänden sich in Übereinstimmung, fußt auf unilateralen Interpretationen der Aussagen der Artikel I und II des NVV, die die Vereinigten Staaten in einem Dokument mit dem Titel „Questions on the Draft Non-Proliferation Treaty asked by US Allies together with Answers given by the United States" niedergelegt haben. Dieses Dokument wurde zusammen mit einem Brief des damaligen US-Außenministers, Dean Rusk, mit den Ratifizierungsunterlagen für den NVV an den US-Senat geschickt und erläutert, warum die Vereinigten Staaten die existierende Form der nuklearen Teilhabe nicht als Vertragsverletzung ansehen. Es wird deshalb häufig als Rusk-Brief bezeichnet.

Ausgangspunkt der Argumentation des Dokumentes ist, daß alles was der NVV nicht explizit verbietet, zulässig ist. Für zulässig werden dann in einzelnen Fragen die verschiedenen Elemente der nuklearen Teilhabe erklärt: Die Konsultations- und Beteiligungsverfahren im Rahmen der Nuklearen Planungsgruppe, die Lagerung US-amerikanischer Waffen auf dem Territorium nicht-nuklearer Staaten in Europa und die Ausstattung nicht-nuklearer Staaten mit Trägersystemen für Nuklearwaffen, die den USA gehören. Das Argument ist im Kern immer gleich: Da nur der US-Präsident diese Waffen zum Einsatz freigeben kann, bleibt die Verfügungsgewalt über diese Waffen im Frieden bei den USA und damit wird die Einhaltung des NVV gewährleistet. Zudem: Keine Formulierung des Vertrages untersage explizit eines dieser Elemente der Nuklearen Teilhabe.

Schwerer tut sich der Rusk-Brief mit der eigentlich brisanten Frage: Wie ist der Einsatz einer US-Nuklearwaffe durch ein nukleares Trägersystem eines nicht-nuklearen Staates, z.B. ein Flugzeug der Bundesluftwaffe mit deutscher Besatzung im Krieg zu bewerten? Hier geht die Verfügungsgewalt (control) über eine Nuklearwaffe auf Bürger eines nicht-nuklearen Staat über. Die Antwort, die der Rusk-Brief präsentiert, verblüfft: „In Kriegszeiten" gelte der Vertrag nicht mehr. Die Argumentation, mit der die US-Regierung zu dieser Schlußfolgerung kommt, verblüfft noch mehr: Sei erst einmal ein Krieg ausgebrochen, so könne der Vertrag seinen Zweck - die Verbreitung von Nuklearwaffen und die Verhinderung eines Krieges mit diesen Waffen - nicht mehr erfüllen. Also sei er nicht mehr bindend.

der Tat: Die Präambel des NVV hält auf Wunsch der USA fest, daß es Zweck des NVV ist, „einen solchen (nuklearen) Krieg zu verhindern". In der amerikanischen Interpretation leitet sich daraus die Position ab, der NVV gelte in Kriegszeiten nicht länger.

Während der Verhandlungen hatte der Rechtsberater des US-Außenministeriums, Leonard Meeker, bereits deutlich vor solch trickreichen Interpretationen und Vorgehensweisen gewarnt:

"Sollten wir uns dazu entscheiden, daß wir Kriegszeiten implizit ausnehmen, dann sollten wir darauf achten, daß wir in Genf absolut deutlich machen, was wir da tun. Ansonsten könnte man uns anschließend vorwerfen, wir hätten unter Vorspiegelung falscher Tatsachen (under false pretenses) verhandelt".

Genau dies aber geschah. Die Warnung wurde in den Wind geschlagen und die Zahl jener, die wußten, welche interpretativen Absichten die westlichen Staaten hatten, wurde auf mindestens ebenso trickreiche Weise klein gehalten.

Der Brief mit den Antworten der USA auf die Fragen der europäischen Alliierten wurde nicht – wie üblich – in einen nationalen Vorbehalt der Vereinigten Staaten umgewandelt, der bei Vertragsunterzeichnung für alle anderen Vertragspartner nachvollziehbar hinterlegt wird. Er wurde vielmehr am 9. Juli 1968, acht Tage nach der Erstunterzeichnung des Vertrages durch mehr als fünfzig Staaten jenen Unterlagen beigelegt, die dem US-Senat für die Diskussion über die nationale Ratifizierung des NVV übersandt wurden. Dieser Vorgang, so die Interpretation der amerikanischen Administration, habe den Inhalt aller Welt zur Kenntnis gegeben.

Daß eine Situation, in der die Mehrzahl der Unterzeichner ihre Unterschrift in Unkenntnis der US-Interpretationen leisteten, durchaus beabsichtigt war, zeigt ein Brief des damaligen Unterstaatssekretärs im Verteidigungsministerium, Nicholas Katzenbach vom 10. April 1968:

"Wir glauben nicht, daß es in unserem oder in unserer Alliierten Interesse wäre, wenn es zu einer öffentlichen Diskussion über die US-Interpretationen käme, bevor der NVV dem US-Senate zur Stellungnahme und Zustimmung zugeleitet wird"

In letzter Konsequenz bedeutet dies, daß wohl kaum ein Unterzeichner des NVV außerhalb der NATO damals wußte, unter welch bedeutsamen Kautelen die NATO-Staaten den NVV unterzeichnet hatten. Erst während der dritten Überprüfungskonferenz des NVV wurde auf schwedische Initiative in das Abschlußdokument erstmals eine das Vorgehen der NATO konterkarierende Sprachregelung aufgenommen. Der Vertrag, so hielt das Dokument fest, gelte „unter allen Umständen", heißt es im Abschlußdokument der Konferenz, also auch zu Kriegszeiten.

 

4.3. Historische Tricks und aktuelle Realität

Doch selbst wenn die unilaterale Interpretation der NATO-Staaten von der internationalen Staatengemeinschaft akzeptiert würde und allen Vertragsparteien des NVV bei Unterzeichnung und Ratifizierung bekannt gewesen wäre, so würde dies doch nicht dazu führen, daß die heute beabsichtigte Erweiterung der Aufgabe und Funktion nuklearer Waffen im Rahmen der neuen militärischen Strategie der NATO als vertragskonform angesehen werden könnte.

Würde ein nicht-nuklearer Staat im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO Nuklearwaffen einsetzen – ganz gleich ob in Antwort auf einen Angriff mit biologischen und/oder chemischen Waffen oder ohne daß ein solcher vorausgegangen wäre - so wäre dies in fast jedem denkbaren Fall Vertragsbruch nach Artikel I und II des NVV.

Der Rusk-Brief sagt, daß ein wesentliches Ziel des NVV, den Ausbruch eines (nuklearen) Krieges zu verhindern, „in Kriegszeiten" (times of war) nicht mehr zu erreichen sei und somit der Vertrag seine Bindungswirkung verliere. Schon in den Anhörungen des Außenpolitischen Ausschusses des US-Senates anläßlich der Ratifizierung des NVV gab dies Anlaß zu der Frage, ob hier jeder Krieg gemeint sei. Die damalige US-Regierung beeilte sich festzustellen, daß selbstverständlich ein großer, allgemeiner Krieg (general war) gemeint sei und bei regionalen bzw. kleineren Konflikten der NVV auf jeden Fall bindend bleibe. Jede Interpretation, die darauf zielen würde, hier sei jeder oder jeder größere Krieg zwischen welchen Akteuren auch immer gemeint, würde sich schon deshalb verbieten, weil es keinesfalls im Interesse der USA oder der NATO gelegen haben kann, allen möglichen anderen Staaten die Argumentationshilfe für ihr Ausscheren aus dem NVV zu liefern. Da zudem der Brief als Antwort auf Fragen der Alliierten und zur rechtlichen Absicherung der nuklearen Teilhabe im Rahmen der NATO konzipiert wurde, kann auch angenommen werden, daß im Kern ein Ost-West-Konflikt zwischen NATO und Warschauer Pakt gemeint war. Genauer gesagt sogar ein nuklearer Krieg. Die in die Präambel des NVV eingefügte Referenzformel, auf die sich die NATO-Staaten im Falle eines Falles berufen wollten, spricht explizit von einem „solchen (nuklearen) Krieg". Dies aber hat zur Folge, daß die NATO sich bei einem Nuklearwaffeneinsatz z.B. gegen einen „Schurkenstaat", der „nur" über biologische oder chemische Waffen verfügt, sich keinesfalls darauf berufen könnte, daß hier der Fall eines „general war" vorliegt.

Weder der NVV noch die einseitigen Interpretationen des Rusk-Briefes gehen zudem davon aus, daß nukleare, biologische und chemische Waffen als gemeinsame Kategorie, als Massenvernichtungswaffen, zu betrachten seien, deren (drohender) Einsatz im Krieg unterschiedslos die Bindungswirkung des NVV aufheben würde.

Eine solche Annahme wäre auch sachlich nicht gerechtfertigt. Während ein Staat, der über ein nukleares Potential verfügt, Existenz und Überleben anderer Staaten gesichert gefährden kann, gilt dies für einen Staat, der über biologische oder chemische Waffen verfügt nicht in ähnlich gesicherter Weise. Er kann zwar seinen Opponenten möglicherweise schwersten Schaden androhen und zufügen, kaum aber andere Staaten gesichert und vollständig vernichten oder gar mit der Ausrottung der gesamten Menschheit drohen. Insbesondere die Staaten der NATO, als Mitglieder des militärisch stärksten Bündnisses, dürften kaum einer so umfassenden Existenzbedrohung ausgesetzt sein. Wären die NATO-Staaten wirklich in dieser Weise existentiell bedroht, so wäre zu fragen: Für welchen anderen Staat gälte dies nicht in erheblich größerem Umfang?

Zugleich ist davon auszugehen, daß die qualitativ erweiterte nukleare Abschreckung, die nach dem Willen der USA Eingang in die neue militärische Strategie der Allianz finden soll, von den meisten nicht-nuklearen NATO-Staaten, vielleicht sogar von manchen in den USA selbst, als vorrangig auf die Stärkung der politischen Abschreckung ausgerichtet verstanden wird. Sie soll den potentiellen Einsatz von allen Massenvernichtungswaffen vor allem durch Stärkung der Ungewißheit über die Reaktion der Allianz verhindern. Die Möglichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes wird offengelassen, ohne daß man sie zunächst für einen konkreten oder annähernd realistischen Fall ins Auge faßt.

Zwei Argumente lassen dies alternierend als unglaubwürdig erscheinen. Zum einen darf mit Recht vermutet werden, daß eine solche Politik letztlich das nukleare Proliferationsrisiko steigert und das Nichtverbreitungsregime schwächt. Damit würde nicht nur das Gegenteil des deklarierten Zieles einer Stärkung der Nichtverbreitungspolitik erreicht. Die Intention einer Stärkung der politischen Abschreckung vor Proliferation würde unterlaufen. Diese würde letztlich schrittweise durch eine militärische Politik der Proliferationsbekämpfung nach dem Muster der amerikanischen Counterproliferation ersetzt. Damit würde kurzfristige Stabilität durch eigene Dominanz erkauft. Der zu zahlende Preis wäre längerfristige Destabilisierung durch erhöhte Proliferationsrisiken. Etliche nicht-nukleare Vertragsparteien des NVV könnten in einer solchen Politik einen zusätzlichen Anlaß sehen, ihre Haltung zum NVV erneut zu überprüfen, da

  • die Nuklearwaffenstaaten sich eine neue, dauerhafte Legitimation für ihr „Vorrecht" zum Besitz von Kernwaffen schaffen und damit die Verpflichtung zu vollständiger nuklearer Abrüstung aus Art VI des NVV auf den „Sanktnimmerleinstag" vertagen;

  • die Nuklearwaffenstaaten auf diese Weise einen Vertrag mit diskriminierender Wirkung zu ihren eigenen Gunsten länger aufrechterhalten;

  • mancher schlußfolgern dürfte, daß ausschließlich Nuklearwaffen als wirksames Mittel der Abschreckung erachtet werden und die Alternative, die chemische und/oder biologische Waffe als „Atomwaffe des kleinen Mannes" hinsichtlich ihrer abschreckenden Wirkung ausgedient hat.

Zum anderen darf keinesfalls davon ausgegangen werden, daß in der NATO dauerhaft die Vorstellung obsiegt, es gehe allein um eine Stärkung der politischen Abschreckung. Dagegen spricht zum einen, daß schon heute erhebliche Kräfte im Bündnis dafür plädieren, die Weiterverbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Waffen militärisch zu bekämpfen. Es muß auch damit gerechnet werden, daß in der künftigen Praxis jeder Zweifel daran, daß konventionelle Optionen gesichert Erfolg bei der Counterproliferation versprechen, den Gedanken an den Rückgriff auf die nukleare Option stärken. Zum anderen spricht der Charakter militärischer Logik und Planungen gegen eine solche Entwicklung. Militärisches Denken und Planen, das nicht vom Worst Case ausgeht, ist – so betrachtet - unzulängliches militärisches Denken und Planen. Ausgeplant (und oft auch geübt) wird deshalb in der Regel alles, was im Rahmen der politischen Vorgaben möglich und zulässig erscheint. Im Falle eines konkreten Konfliktes wird der Politik dann ein Spektrum der Optionen präsentiert, das nicht selten die Vorstellungskraft der Politik über das in Friedenszeiten im Rahmen der politischen Vorgaben Zugelassene weit überschreitet. In Krisen erwies die Politik sich aber bereits des öfteren als höchst überfordert, ihre Kontrollfunktion und ihr Primat gegenüber der militärischen Planung von Optionen wirklich auszuüben.

 

4.4. Probleme mit den Negativen Sicherheitsgarantien

Im Blick auf den NVV ergibt sich aber auch noch ein zweites Problem. Die Nuklearmächte verstoßen bei einem Einsatz nuklearer Waffen gegen „lediglich" mit biologischen und chemischen Waffen ausgestattete Gegner gegen die Negativen Sicherheitsgarantien, die sie den nicht-nuklearen Vertragsstaaten zuletzt anläßlich der NVV-Überprüfungskonferenz 1995 gegeben haben. Diese Garantien – wie übrigens auch entsprechende Zusicherungen im Kontext der Verträge über regionale Nuklearwaffenfreie Zonen – beinhalten eine politisch, aber nicht rechtlich bindende Selbstverpflichtung der Nuklearwaffenstaaten, keine Atomwaffen gegen nicht-nukleare Staaten einzusetzen, es sei denn, der nicht-nukleare Staat sei im Bündnis mit einem nuklear bewaffneten Staat an einer bewaffneten Aggression beteiligt. Diese Garantien stellten 1995 in den Augen der meisten nicht-nuklearen Staaten eine wesentliche Voraussetzung dafür dar, daß sie einer zeitlich unbegrenzten, bedingungslosen Verlängerung des NVV nicht widersprachen.

Von den Negativen Sicherheitsgarantien wurden Staaten, die über biologische und chemische Waffen verfügen, nicht ausgenommen. Die Negative Sicherheitsgarantie der USA aus dem Jahre 1995 hat folgenden Wortlaut:

"Die Vereinigten Staaten bekräftigen, daß sie Nuklearwaffen nicht gegen Vertragsparteien des NVV einsetzen werden, die nicht über Kernwaffen verfügen, es sei denn, ein solcher Staat verwirklicht oder unterstützt gemeinsam mit einem Kernwaffenstaat oder als dessen Verbündeter eine Invasion oder einen beliebigen anderen Überfall gegen die Vereinigten Staaten, ihr Territorium, ihre Streitkräfte oder anderen Truppen, ihre Verbündeten oder gegen einen Staat dem gegenüber sie Sicherheitsverpflichtungen hat.

Jack Mendelsohn von der Lawyers Alliance for World Security argumentiert in der Zeitschrift „Arms Control Today":

„Wichtig bleibt festzuhalten, daß die Negative Sicherheitsgarantie keine Ausnahmen macht, die einen Nuklearwaffeneinsatz in Antwort auf einen Angriff mit biologischen oder chemischen Waffen erlaubt.

Die NATO-Doktrin des Ersteinsatzes gegen konventionelle Kräfte steht in klarem Widerspruch zu den auf den NVV bezogenen Verpflichtungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs aus den Negativen Sicherheitsgarantien. Hinzu kommt, daß die USA, der wichtigste Nuklearwaffenstaat in der NATO, sich die Option offenhält, Nuklearwaffen als Antwort auf einen Angriff mit biologischen und chemischen Waffen offenhält und den Eindruck erweckt, die NATO verfolge dieselbe Politik. (...)

Wenn die USA als militärisch stärkste Macht auf Erden und die NATO als stärkstes konventionelles Bündnis darauf bestehen, daß sie die Drohung mit dem Ersteinsatz nuklearer Waffen aufrechterhalten müssen, um potentielle Gegner abzuschrecken, dann ruft das die Frage hervor, warum andere, viel schwächere Staaten, die sich mit feindlich gesonnenen direkten Nachbarn konfrontiert sehen, diese Option nicht auch benötigen. Darüber hinaus erweckt eine US- und NATO-Politik des Ersteinsatzes gegen konventionelle, chemische und biologische Waffen den Eindruck, daß Nuklearwaffen viele sinnvolle militärische Funktionen erfüllen können. Das stärkt die Bedeutung und das Prestige, das nuklearen Waffen (und ihrem Besitz) zugemessen wird und unterminiert Bemühungen der USA und anderer wichtiger NATO-Staaten, nicht-nukleare Staaten davon zu überzeugen, daß sie von der Entwicklung eines eigenen Nuklearwaffenarsenals Abstand nehmen sollten.

 

5. Das Ende einer deutschen Rüstungskontroll-Initiative? - Die Überprüfung der Rüstungskontrollpolitik der NATO

Doch nicht nur im Hinblick auf den NVV und die Überprüfungskonferenz für diesen Vertrag im kommenden Monat entstehen Probleme. Aus bundesdeutscher Sicht schüfe die Erweiterung der Rolle nuklearer Waffen weitere gravierende politische Schwierigkeiten. Sie konterkariert effizient wesentliche Initiativen, die Bundesaußenminister Joschka Fischer ergriffen hat. Dieser regte schon kurz nach seinem Amtsantritt im Herbst 1998 an, die NATO solle auf die Option eines nuklearen Ersteinsatzes verzichten und somit eine wesentliche Initiative rüstungskontrollpolitischer Vertrauensbildung ergreifen. Er stieß mit diesem Vorstoß auf heftigen Gegenwind seitens der USA. Andere NATO-Staaten, zum Beispiel Kanada, unterstützten den Vorstoß. Im Bündnis wurde vereinbart, den Streit bis zum NATO-Gipfel in Washington ruhen zu lassen. Auf dem Gipfel solle dann eine umfassende nicht unter Zeitdruck stehende Überprüfung der Nuklearpolitik der Allianz beschlossen und in Gang gesetzt werden. Dies geschah.

„32. (...) Im Lichte der strategischen Entwicklungen insgesamt und der abnehmenden Bedeutung nuklearer Waffen wird die Allianz Optionen für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, Verifikation, Nichtverbreitung sowie die Rüstungskontrolle und Abrüstung prüfen. Der Ständige NATO-Rat wird den Ministern im Dezember einen Prozeß zur Prüfung solcher Optionen vorschlagen. Die zuständigen NATO-Gremien werden diese Aufgabe übernehmen."

Das Gipfelergebnis wurde allerdings unterschiedlich interpretiert. Wurde deutscherseits argumentiert, eine gründliche Überprüfung der nuklearen Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik führe automatisch auch zu einer Überprüfung der nuklearen Strategie und des nuklearen Potentials der NATO, so war man in den USA, aber auch in Großbritannien anderer Auffassung. Die Nuklearmächte der NATO zielten auf eine strikte Begrenzung der Überprüfung auf Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitungspolitik.

Parallel begann die militärische Ebene der NATO, das in Washington beschlossene neue Strategische Konzept der Allianz in ein neues militärisches Strategie-Dokument umzusetzen – die MC 400/2. Dabei brauchten die USA lediglich darauf zu achten, daß die Abschreckung der Besitzer chemischer und biologischer Waffen durch das neue Strategie-Dokument nicht ausgeschlossen, besser aber als Option angedeutet wird. Beides ist hinlänglich, um die Möglichkeit für einen solchen Einsatz offenzuhalten. Eine Formulierung wie jene, daß die NATO zu diesem Zweck eine geeignete Zusammensetzung von Streitkräften (an appropriate mix of forces) bereithalten müsse, erfüllt aus amerikanischer Sicht bereits vollends den gewünschten Zweck. Diese Formulierung meint eine geeignete Kombination konventioneller und nuklearer Kräfte und hält somit auch für letztere diese Aufgabenbeschreibung offen.

Die Initiative des deutschen Außenministers, Fischer, die NATO zu einer „No First Use"-Erklärung zu bewegen, scheint somit eine unbeabsichtigte Nebenwirkung zu zeitigen. Sie wirkte als Initialzündung dafür, die bedeutsame Rolle nuklearer Waffen im Kontext der NATO vorläufig neu festzuschreiben. Diesen Eindruck vermittelt auch das Kommuniqué der Tagung der Nuklearen Planungsgruppe aus dem Dezember 1998. Die Bedeutung der nuklearen Komponente wurde so deutlich hervorgehoben wie lange nicht mehr.

De facto würde Fischer’s Initiative damit das Gegenteil dessen bewirken, was sie wohl intendierte: Das politische und militärische Gewicht nuklearer Waffen in der NATO-Strategie wird wieder gestärkt. Mehr noch: Die Option auf den Ersteinsatz nuklearer Waffen wird zum langfristig unverzichtbaren Bestandteil der Allianz-Strategie. Der amerikanische Verteidigungsminister, William Cohen, sagte in Reaktion auf Fischer’s Vorschlag:

„Der Ersteinsatz ist ein integraler Bestandteil unseres Strategischen Konzeptes und wir sind der Auffassung, daß dies genau so bleiben sollte. Wir meinen, daß die Ambiguität, die mit einem Nuklearwaffeneinsatz verbunden ist, zu unserer eigenen Sicherheit beiträgt, da sie bei jedem potentiellen Gegner, der entweder chemische oder biologische Waffen könnte, Unsicherheit hervorruft, was unsere Reaktion sein würde."

Der Einsatz nuklearer Waffen gegen Besitzer biologischer und chemischer Waffen ist per definitionem in vielen, wenn nicht den allermeisten Fällen ein Ersteinsatz, da der potentielle Gegner gar nicht über Nuklearwaffen verfügt. Die Möglichkeit, „nur" mit chemischen und biologischen Waffen ausgestattete Gegner nuklear abzuschrecken, kann nur glaubwürdig sein, wenn auch die Option auf einen nuklearen Ersteinsatz offengehalten wird.

Zudem hat diese Entwicklung gravierende, begrenzende Auswirkungen auf die möglichen Ergebnisse des Überprüfungsprozesses der NATO im rüstungskontrollpolitischen Bereich. Hat die Allianz ihre neue militärische Strategie erst einmal gebilligt, so ist kaum davon auszugehen, daß im Ergebnisse des rüstungskontrollpolitischen Überprüfungsprozesses sofort erneut über die nukleare Strategie und das Nuklearwaffenpotential der NATO diskutiert wird. Vielmehr ist damit zu rechnen, daß die möglichen Ergebnisse des rüstungskontrollpolitischen Überprüfungsprozesses durch in der neuen militärischen Strategie getroffene Festlegungen vorherbestimmt werden. Mit anderen Worten: Eine Erklärung, die NATO werde Nuklearwaffen nur in Antwort auf einen nuklearen Angriff einsetzen, kann bei dieser Überprüfung dann genauso wenig herauskommen, wie eine deutliche Reduzierung der Zahl in Europa stationierter Nuklearwaffen oder deren Abzug. Im Gegenteil: Die militärische Bedeutung nuklearer Waffen für die NATO steigt erstmals seit Ende des Kalten Krieges wieder. Die Absicht, sie lediglich als politische Waffen, als Mittel der Abschreckung und als letztes Mittel zu sehen, wird effizient konterkariert.

 

6. NATO-Rußland-Kooperation gegen den NVV?

Einem erfolgreichen Abschluß der Überprüfungskonferenz des NVV könnte leicht noch ein weiteres Hindernis im Wege stehen. Auch die Russische Föderation steht dieser Tage vor einem militärischen Strategiewechsel. Noch im März 2000 wird mit der politischen Billigung einer neuen Militärdoktrin gerechnet, nachdem Interimspräsident Wladimir Putin mit seinem Erlaß eines neuen Konzepts der Nationalen Sicherheit der Russischen Föderation vom 14. Januar 2000 die rechtliche und politische Grundlage für einen solchen Schritt gelegt hat.

Rußland hat sich bereits in seiner Militärdoktrin aus dem Jahre 1993 auch im Bereich der deklaratorischen Politik von der No-First-Use Politik der Sowjetunion verabschiedet. Sieben Jahre später paßt Moskau seine Nukleardoktrin ein weiteres Mal an Entwicklungen in den USA und in der NATO an. Im Entwurf für eine neue Militärdoktrin, der am 5. Oktober 1999 in der Zeitung Krasnaja Swesda veröffentlicht wurde, wird dem russischen Nuklearpotential ebenfalls die Aufgabe der Abschreckung des Einsatzes aller Massenvernichtungswaffen zugewiesen.

Dort heißt es, die Russische Föderation behalte sich

"das Recht auf die Anwendung von Kernwaffen vor – sowohl in Antwort auf den Einsatz von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen gegen sie oder ihre Verbündeten als auch, in kritischen Situationen für die nationale Sicherheit der Russischen Föderation und ihre Verbündeten, als Antwort auf eine Aggression großen Maßstabs mit konventionellen Waffen."

Doch anders als in Washington, scheint man sich in Moskau des potentiellen Widerspruchs zwischen der erweiterten Rolle nuklearer Waffen und den Negativen Sicherheitsgarantien der Nuklearmächte im Kontext des NVV‘s nicht bewußt zu sein: Der Entwurf der neuen Militärdoktrin enthält – unmittelbar vor der bereits zitierten Formulierung auch die folgende Aussage:

Rußland werde gegen Staaten, "die nicht über Kernwaffen verfügen keine Kernwaffen einsetzen, es sei denn, ein solcher Staat verwirklicht oder unterstützt gemeinsam mit einem Kernwaffenstaat oder als dessen Verbündeter eine Invasion oder einen beliebigen anderen Überfall gegen die Russische Föderation, ihr Territorium, ihre Streitkräfte oder anderen Truppen, ihre Verbündeten oder gegen einen Staat dem gegenüber sie Sicherheitsverpflichtungen hat."

Dies ist exakt jene Formulierung, mit der die Nuklearmächte im Umfeld der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz des NVV 1995 ihren negativen Sicherheitsgarantien erneut Ausdruck verliehen.

Ob es letztlich, bei dem unter Präsident Jelzin veröffentlichten Entwurf des Wortlautes der neuen Militärdoktrin bleibt, ist abzuwarten. Sein Nachfolger, Wladimir Putin, hat auch das übergeordnete sicherheitspolitische Dokument der Russischen Föderation, die „Konzeption der nationalen Sicherheit", die Jelzin im Oktober 1999 erlassen hatte, bereits wenige Tage nach Amtsantritt in sehr entscheidenden Punkten verändert, neu erlassen. Die für den März erwartete endgültige Beschlußfassung über die neue Militärdoktrin wird zeigen, ob es auch hier Veränderungen gibt.

Noch vor Beginn der Überprüfungskonferenz für den NVV werden somit entscheidende Weichen gestellt. Vier der fünf nuklearen Mitglieder des NVV, Großbritannien, Frankreich und die USA, sowie ihre in die nukleare Teilhabe eingebundenen Bündnispartner könnten den Nuklearwaffen eine erheblich erweiterte Funktion zuweisen und damit einseitig die Erfolgsaussichten für die Konferenz signifikant schmälern, wenn nicht ruinieren.

 

Anhang : Questions on the Draft Non-Proliferation Treaty asked by US Allies together with Answers given by the United States (Rusk-Brief)

1. Q. What may and what may not be transferred under the draft treaty?

A. The treaty deals only with what is prohibited, not with what is permitted.

It prohibits transfer to any recipient whatsoever of "nuclear weapons" or control over them, meaning bombs and warheads. It also prohibits the transfer of other nuclear explosive devices because a nuclear explosive device intended for peaceful purposes can be used as a weapon or can be easily adapted for such use.

It does not deal with, and therefore does not prohibit, transfer of nuclear delivery vehicles or delivery systems, or control over them to any recipient, so long as such transfer does not involve bombs or warheads.

2. Q. Does the draft treaty prohibit consultations and planning on nuclear defense among NATO members?

A. It does not deal with allied consultations and planning on nuclear defense so long as no transfer of nuclear weapons or control over them results.

3. Q. Does the draft treaty prohibit arrangements for the deployment of nuclear weapons owned and controlled by the United States within the territory of non-nuclear NATO members?

A. It does not deal with arrangements for deployment of nuclear weapons within allied territory as these do not involve any transfer of nuclear weapons or control over them unless and until a decision were made to go to war, at which time the treaty would no longer be controlling.

4. Q. Would the draft prohibit the unification of Europe if a nuclear weapon state was one of the constituent states?

A. It does not deal with the problem of European unity, and would not bar succession by a new federated European state to the nuclear status of one of its former components. A new federated European state would have to control all of its external security functions including defense and all foreign policy matters relating to external security, but would not have to be so centralized as to assume all governmental functions. While not dealing with succession by such a federated state, the treaty would bar transfer of nuclear weapons (including ownership) or control over them to any recipient, including a multilateral entity.

 

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).