Diskussionspapier für die
Heinrich Böll Stiftung
November 2004


Der Westbalkan 2005
Einige konzeptionelle Überlegungen

von Otfried Nassauer

Viel spricht dafür, dass 2005 ein wichtiges, vielleicht sogar entscheidendes Jahr für die Zukunft des Balkans wird. In Bosnien will die Europäische Union mit der Mission Althea den SFOR-Einsatz der NATO ablösen und damit ihre erste größere Friedensmission im Rahmen der sich entwickelnden ESVP aufnehmen. Zugleich jährt sich 2005 der Dayton-Vertrag zum zehnten Mal und mit ihm wird der Versuch zehn Jahre alt, mit Hilfe massiver internationaler Truppenpräsenz und finanzieller Hilfe aus dem durch Krieg zerrütteten Bosnien-Herzegowina einen stabilen multi-ethnischen Staat mit funktionierenden Institutionen aufzubauen. Mittlerweile gibt es eine intensive Diskussion, wie diese – immer noch nicht geleistete - Aufgabe "Beyond Dayton", also auf neuer Grundlage endlich bewerkstelligt werden kann. 2005 aber jährt sich auch das Massaker von Srebenica zum zehnten Mal – ein Anlass, der alte Wunden und Zweifel an den Fähigkeiten der Internationalen Gemeinschaft zum erfolgreichen Krisenmanagement wieder aufreißen könnte.

Für den Kosovo wurde am Ende des Kosovo-Krieges 1999 vereinbart, im Jahr 2005 mit Gesprächen über den endgültigen völkerrechtlichen Status der Provinz, derzeit ein faktisches UN-Protektorat, zu beginnen. In welcher Form dies geschehen soll, dafür gibt es bislang keine offiziellen Vorschläge. Zugleich aber mehren sich die kritischen Stimmen, die fürchten, dass die vor einigen Jahren von Michael Steiner proklamierte und seit her handlungsleitende These "Standards vor Status" zunehmend kontraproduktiv wird und durch einen neuen Ansatz abgelöst werden sollte. Schließlich haben die Unruhen im März 2004 verdeutlicht, dass nicht auszuschließen ist, dass kosovo-albanische Nationalisten über einen "zweiten Befreiungsaufstand", diesmal gegen die Präsenz von NATO und UNMIK, nachdenken, um sich zu nehmen, was ihnen derzeit niemand so recht geben will – die staatliche Unabhängigkeit.

Makedonien, der dritte Konfliktherd des Balkans, ist mit der Zurückweisung des Volksbegehrens gegen die den Ohrid-Vertrag umsetzende Reform der Gebietskörperschaften Ende 2004 an einer erneuten, größeren politischen Krise noch einmal vorbeigeschrammt. Latent krisenhaft aber bleibt die Entwicklung weiter – dies zeigt nicht zuletzt der kurz darauf erfolgte Rücktritt des mazedonischen Premierministers und der Streit um die Rolle von Organisierter Kriminalität und Korruption, den er mit seiner Rücktrittsbegründung auslöste. Die Regierungsneubildung unter Vlado Buchkovski gestaltete sich schwierig. Hinzu kommt die enge Wechselwirkung des Konfliktes in Makedonien mit den Entwicklungen vor allem im Kosovo, aber auch im Presovo-Tal – eine Wechselwirkung, die nicht zuletzt darauf verweist, dass es – mit Blick auf die künftige Rolle und das künftige Gewicht Serbiens auf dem Balkan – auch Wechselwirkungen zwischen praktisch allen noch ungelösten Balkankonflikten, einschließlich Bosnien-Herzegowinas, gibt.

Der Blick auf das potentiell schwierige Jahr 2005 offeriert somit einen erneuten und gewichtigen Anlass, einen kritischen Rückblick auf die bisherigen Aktivitäten der Internationalen Gemeinschaft zu werfen, um Lehren aus den durchwachsenen Ergebnisse und im Blick auf die eigenen Ansprüche teils sogar gescheiterten Bemühungen der Internationalen Gemeinschaft zur Stabilisierung des Westbalkans zu ziehen. Auf diesem Wege können Defizite identifiziert werden und möglicherweise alternative Lösungsmöglichkeiten in den Blick kommen.

Dieses Papier versucht einen solchen Denk- und Arbeitsprozess anzustoßen und wählt – vor allem und gerade weil die Europäische Union auf dem Balkan künftig ihre sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit verstärkt unter Beweis stellen will – die ESVP und die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) des Europäischen Rates aus dem Jahr 2003 sowie den Denkansatz einer "Europäischen Sicherheitspolitik aus einem Guss" als Folien, auf deren Hintergrund eine solche Diskussion und Analyse produktiv gemacht werden kann. Die erste Folie bietet sich an, weil Europas ESVP auf dem Balkan "zum Erfolg verdammt" ist, will sie als bedeutende Perspektive der weiteren europäischen Integration nicht deutlich verlieren. Die zweite Folie erscheint sinnvoll, weil die ESS zur Zeit für eine Sicherheitspolitik im Werden steht, also einen fortlaufenden Prozess, der seinerseits gegen "eine (wünschenswerte) Vision" gegengelegt werden sollte, damit er sich nicht allein quasi naturwüchsig und zielfrei aus tagespolitischen Handlungsnotwendigkeiten und bottom-up-Pragmatismen ergibt. Das letztere Vorgehen würde einer strategischen Zielsetzung nicht "gut tun". Analyse und Diskussion bedürfen eines gewissen Abstandes zur Tagespolitik und ihren Notwendigkeiten sowie einer längerfristig strategisch orientierten Korrekturfolie. Daneben können tagespolitische Aspekte und Fragen zur Sprache kommen – aber eben nur "daneben".


Der Balkan als Prüfstein für die ESVP

Es gibt verschiedene Motive dafür, dass die Europäische Union sich immer stärker – auch militärisch - auf dem Balkan engagiert. Dazu gehören u.a.

  • die geographische Nähe und damit die Zugehörigkeit zu dem zu stabilisierenden "Wider Europe" der Europäischen Sicherheitsstrategie;
  • das Interesse vieler EU-Staaten, das Entstehen eines geographischen Risikoraumes zu verhindern, in dem sich die in der ESS teils offen teils implizit benannten Risiken illegaler Migration, des Drogenhandels, der Organisierten Kriminalität, aber auch erneuter Bürgerkriege oder künftig eines Islamischen Fundamentalismus in unmittelbarer Nähe zur EU-Außengrenze entfalten können;
  • die "europäische Perspektive", die auch dem westlichen Balkan mittel- und langfristig eröffnet werden muss, soll und wird, wie der in Thessaloniki verabredete Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess deutlich macht;
  • die vergleichsweise geringe Konkurrenz zu den USA um die Zuständigkeit für die regionale Stabilisierung; sowie
  • der Bedarf der Europäische Union an begrenzten, aber aufwuchsfähigen "Übungsfeldern" für die Erprobung der entstehenden europäischen Krisenmanagementpolitiken und –instrumente.

Mithin: Die Balkankonflikte bieten scheinbar "vergleichsweise günstige" Voraussetzungen dafür, im wohlverstandenen Eigeninteresse die neuen Mittel und Instrumente der ESVP zu testen, den EU-Anspruch auf eine größere Rolle beim europa-nahen Krisenmanagement versuchsweise praktisch einzulösen und Erfahrungen wie Lehren für die Weiterentwicklung der ESVP zu sammeln. Dafür stehen sicherheitspolitisch die erfolgte Übernahme der NATO-Mission in Mazedonien und deren späterer Ersatz durch eine EU-Polizeimission ebenso wie die zu Beginn 2005 anstehende Übernahme weiter Teile der NATO-Mission SFOR durch die EU-Mission Althea in Bosnien-Herzegowina. Die dortige Polizeimission führt die EU bereits ebenfalls. Nicht auszuschließen ist, dass die EU mittelfristig auch mit dem Gedanken spielen wird, die KFOR-Mission im Kosovo zu übernehmen. Denn letztlich – daran zweifelt wohl niemand – muss der West-Balkan längerfristig insgesamt eine "europäische Perspektive" erhalten, die auf seine stufenweise Integration in die Europäische Union hinausläuft.

Auffällig ist, dass das ursprünglich gewichtigste ökonomische Instrument Europas zur Stabilisierung des Balkans, der Stabilitätspakt, mittlerweile in den öffentlichen Überlegungen zur Stärkung der europäischen Rolle auf dem Balkan oft nur noch am Rande erwähnt wird und nach hoffnungs- und erwartungsweckendem Beginn in den vergangenen Jahren sígnifikant an öffentlicher Sichtbarkeit eingebüßt hat. Fast möchte man meinen, er sei in der Versenkung verschwunden oder habe sich in seine tagespolitisch motivierten Einzelaufgaben und –projekte aufgelöst. Von der Erfüllung seiner wichtigsten Aufgabe, nämlich dazu beizutragen, die Nachkriegsökonomien auch des Balkans so zu transformieren, dass mittel- oder längerfristig eine Integration des Westbalkans in die Europäische Union möglich erscheint, ist er jedenfalls noch weit entfernt. Dieser Perspektive fehlt es vorort vielfach noch an Glaubwürdigkeit, Überzeugungskraft und alternativer Strahlkraft. Auch der in Thessaloniki verabredete Stabilisierungs- und Assoziierungsprozeß für die Länder des westlichen Balkans hat dieses Perzeptionsproblem bisher nicht lösen können. Viele Nachkriegsökonomien des Westbalkans haben sich bisher stärker zu Schatten- und Gewaltökonomien entwickelt, denn zu Ökonomien, die in der globalen auf absehbare Zeit wettbewerbsfähig mitwirken könnten. [1]

Dies ist aber nur ein Indiz dafür, dass die sich entwickelnde ESVP gleich in mehreren Punkten ihren eigenen Ansprüchen zur Zeit aus strukturellen Gründen (noch) nicht gerecht werden kann oder aber gedanklich (noch) zu kurz greift. So argumentiert beispielsweise die ESS, dass Sicherheit (Stabilität) die Voraussetzung für nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung sei. Den zumindest ebenso zutreffenden Umkehrschluss, dass wirtschaftliche Entwicklung die Voraussetzung für Frieden (Stabilität) sei, sucht man dagegen vergebens. Ein ähnliches Manko zeigt sich in dem für den Kosovo-Konflikt so wichtigen Ansinnen "Standards vor Status" zu schaffen und zu entscheiden. Minderheits- und Menschenrechte sollen im Kosovo gewährleistet werden, bevor über den endgültigen Status der Provinz beschlossen wird. Oder formulieren wir es anders: Die Menschenrechts- und Minderheitenlage ist eine Voraussetzung für Stabilität. Und der Umkehrschluss? Gilt er nicht auch? Stabilität, ein geklärter völkerrechtlicher Status als Voraussetzung für die Einhaltung von Menschen- und Minderheitsrechten?

Ein weiteres Indiz oder Anzeichen struktureller gedanklicher Mängel ist das Nebeneinander des Benutzens unzureichend definierter und unklar verwendeter Begrifflichkeiten wie "nation-building" oder "state-building". Wie so viele Begrifflichkeiten, die kurz nach dem Ende des Kalten Krieges im Kontext der schnell aufwachsenden Industrie der "Soft Security - Spezialisierten" entwickelt wurden, lassen sie allgemein akzeptierte Definitionen vermissen und damit viel Raum für konkurrierende, multikulturelle Konfliktmanagementansätze.


Status-Quo-Orientierung, Stabilitätsfixierung und das Heft des Handelns

Eines der wichtigsten Hemmnisse für die Wirksamkeit der ESVP wie der Internationalen Sicherheitspolitischen Akteure auf dem Balkan ist deren Status-Quo-Orientierung bzw. Stabilitätsfixierung. Diese resultiert weitgehend aus der Priorität bzw. dem Übergewicht des Mittels "Militär" als Hauptinstrument des Stabilisierungsversuchs. Ob das Festhalten an der "Standards vor Status"-Frage im Kosovo oder die Ängste vor einem "Beyond Dayton-Prozess" in Bosnien Herzegowina – immer wieder wird deutlich, dass das erreichte "Ist" an traditioneller sicherheitspolitischer Stabilisierung Gefahr läuft, zu einer heiligen Kuh zu werden, die nicht angetastet werden darf, auch wenn sie einer Weiterentwicklung von Demokratie, Menschen- und Minderheitsrechten sowie der wirtschaftlichen Entwicklung oder der Herausbildung neuer funktionsfähiger staatlicher Institutionen buchstäblich im Wege steht. [2]

Betrachtet man jedoch die ungewollten Nebenwirkungen, so wird schnell deutlich, dass eine solche Politik nicht nur das Heft des Handelns, also die Initiative, aus der Hand gibt, sondern auch riskiert, dass sich in der örtlichen Gesellschaft ein Gefühl mangelnden Fortschritts, ja von Stillstand ausbreitet und sich bei einer oder mehreren Konfliktparteien über die Zeit Frustrationen aufbauen können. Diese können sich im Handeln einzelner, potentiell zur Lageveränderung fähiger örtlicher Akteure entladen, wenn diese Akteure die Bereitschaft zur Status-Quo-Veränderung haben und – beispielsweise via ethnischer Argumentationslinien – über ein Mobilisierungsmittel verfügen. Schuldig am Stillstand sind dann schnell allein die Internationalen. Die organisierten Unruhen im März 2004 im Kosovo sind ein gutes Beispiel für einen noch vorsichtigen Test dieser Art.[3] Sind es aber wieder örtliche Konfliktparteien (und nicht mehr die per Intervention inthronisierten internationalen Akteure), die als Hauptakteure des künftigen, potentiell zügigen Wandels wahrgenommen werden, so bestimmen örtliche Akteure mit ihren öffentlichen, Hoffnungen weckenden Versprechungen auf Wandel schnell wieder den Konfliktverlauf.[4] Die internationalen Akteure dagegen befinden sich dann auf dem Rückzug in die Status-Quo-Erhaltung, d.h. in einer strategischen Defensive hinsichtlich des Prozesses und der Aufgabe, stabile, demokratische und wirtschaftlich entwicklungsfähige staatliche Strukturen aufzubauen. Ihre zunächst positiv bewertete Rolle reduziert sich immer weiter auf die Infusion finanzieller Ressourcen;[5] positive politische Impulse werden von ihnen vorort immer weniger erwartet. Diese Position mag sie im günstigsten Fall dazu befähigen, den Status-Quo aufrechtzuerhalten und den offenen Aufbruch neuer Gewalttätigkeiten zu verhindern. Es befähigt sie aber sicher nicht länger, einen wirklichen Friedensprozess voranzutreiben. Denn dieser würde es bedingen, wo immer möglich die Initiative zu ergreifen und als Antreibender, nicht als Getriebener des Wandels zu agieren und gemeinsam mit den Konfliktparteien an einer sich ständig weiter entwickelnden Zukunftsvision zu arbeiten.


Staatenbildung und Friedensprozesse

Die Betrachtung der diversen Stabilisierungsversuche der Internationalen Gemeinschaft auf dem Balkan führt zu einer wichtigen, weil problematischen Beobachtung. Um diese besser verständlich zu machen, ist ein kurzer theoretischer Exkurs vorweg sinnvoll:

Der deutsche Philosoph und Bildungstheoretiker Georg Picht entwickelte gegen Ende der 60er Jahre einen eigenen Friedensbegriff. Picht wollte Frieden nicht als Zustand verstanden wissen, schon gar nicht als den Gegenzustand zu Krieg, sondern als Prozess. Frieden war für ihn ein kontinuierlicher Prozess des Friedenshandelns, in dem es darum gehen müsse, die kriegsfördernden Faktoren Not, Gewalt und Unfreiheit gemessen am jeweils gerade existierenden Ausgangsniveau immer wieder neu zu minimieren. Die Minimierung von Not, Gewalt und Unfreiheit betrachtete Picht als gleichberechtigte Dimensionen des Friedenshandelns. Bei der Beurteilung, ob Friedenshandeln gelinge, komme es nicht primär auf je eine der Dimensionen des Friedenshandelns an, sondern darauf, dass die kriegsfördernde Wirkung aller Faktoren zusammen abnehme.

Auf dem Hintergrund dieser Folie betrachtet, werden die Schwächen der Stabilisierungsversuche auf dem Balkan sehr schnell deutlich: Die ethnischen Auseinandersetzungen bzw. die Frage der Minderheitenrechte gehören in die Dimension der "Unfreiheit", die wirtschaftliche Perspektive und Entwicklung in die Dimension der "Not" und die "Stabilitätsfrage" gehört in die Dimension der "Gewalt" – leicht vereinfacht betrachtet.

Niemand kann berechtigterweise ehrlich und überzeugt behaupten, dass Handeln der Internationalen Gemeinschaft oder der örtlichen Konfliktparteien habe in den vergangenen Jahren mit gleichem Gewicht allen drei Faktoren bzw. deren Minimierung gegolten und habe gleichberechtigt in allen drei Dimensionen stattgefunden. Im Gegenteil: Das Hauptaugenmerk der Internationalen Gemeinschaft galt der Reduzierung des Faktors Gewalt. Lösungen der wirtschaftlichen Entwicklungsprobleme oder Fragen der ethnischen Differenzen bzw. der Minderheitenrechte wurden vergleichsweise nachrangig gewichtet und flexibler gehandhabt. Ähnliches galt für das Handeln der örtlichen Konfliktparteien. Bei diesen stand rhetorisch meist die Perspektive ihrer Volksgruppe und deren Gewichtung im Vergleich zu anderen Volksgruppen im Vordergrund – die sicherheitspolitische Stabilität und vor allem die wirtschaftliche Entwicklung waren dagegen von geringerer Bedeutung, also die Variablen. Ganz gleich, ob man auf die Konflikte in Makedonien und den Ohrid-Prozess oder auf den Kosovo und die "Standards vor Status-These" oder auf Bosnien und die "Beyond Dayton-Fragestellungen" blickt – es zeigt sich, dass für die Akteure der einzelnen Prozesse, wenn es hart auf hart kommt, immer eine der Dimensionen im Vordergrund steht und oft die beiden anderen schnell als Variablen betrachtet und gehandhabt werden. Viel mangelnder Fortschritt erklärt sich aus Blockaden, die daraus entstehen, dass die einzelnen Akteure unterschiedliche Dimensionen in den Vordergrund rücken und auf diesem Gebiet ihren Vorteil (und "balkan-typisch" weniger den Kompromiss) suchen. Mangelnder Fortschritt ist damit auch das Ergebnis eines verengten, interessengeprägten Blickwinkels.

Alle Akteure messen einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung und deren Absicherung gegen Organisierte Kriminalität und Korruption eine vergleichsweise geringe faktische Bedeutung zu und tragen damit dazu bei, dass sich den je einzelnen (oft unpolitisch agierenden) Menschen außerhalb der Akteursgruppen keine wirklich alternative Perspektive auf Arbeit und verbesserte Lebensumstände bietet.[6]

Ähnliches gilt für den Bereich der Bildung. Deren Funktion, alternative Eliten auszubilden und damit den Wandel zu einer Zivilgesellschaft demokratischen Charakters vorzubereiten, gehört ebenfalls zu den oft vernachlässigten Sektoren. Auch dieses Versäumnis wirkt letztlich im Sinne einer der Perpetuierung des Status Quo und der Aufrechterhaltung überkommener, wenn nicht sogar kontraproduktiver Machtverhältnisse.

Betrachtet man dagegen die Konflikte aus der Perspektive der Dreidimensionalität des Picht’schen Friedenshandelns, so wächst zwar die Komplexität der Aufgabe und die potentieller Lösungsansätze, aber auch die Zahl der potentiell den Konfliktparteien zu offerierenden Win-Win-Lösungen.


ESS und "Europäische Sicherheitspolitik aus einem Guss"

Die Entscheidungen des Europäischen Rates, mittels der ESVP verstärkten Einfluss und verstärkte Verantwortung auf und für die Stabilisierung des westlichen Balkans und seine Heranführung an die europäischen Integration zu übernehmen, sind Risiko und Chance zugleich.

Das ESVP-Engagement im Westbalkan ist zum Erfolg verdammt. Im Falle seines Scheiterns – und dieses droht bereits bei einem Versagen hinsichtlich auch nur einer der drei Dimensionen des Friedenshandelns – bleibt mehr als nur ein ungelöster regionaler Konflikt zurück. Ein Scheitern würde die ESVP als europäisches Handlungsinstrument in Gänze gefährden und zudem den europäischen Integrationsprozess deutlich schwächen. Dies wird schon aus wenigen, grundsätzlichen Überlegungen deutlich: Ein westlicher Balkan, der auf Dauer latent eine potentielle militärische Konfliktregion bleibt, kann nicht erfolgreich in die EU integriert werden. Eine Integration von Volkswirtschaften mit überwiegend informellen oder kriminellen Sphären oder gar den Charakteristika von Gewaltökonomien in die heutige EU verbietet sich ebenfalls. Die ESS sieht in der Organisierten Kriminalität (wie im transnationalen Terrorismus) zurecht eines der wesentlichen transnationalen Sicherheitsrisiken der Zukunft. Das weitgehende Gelingen der ökonomischen Transformation des Westbalkans ist somit eigentlich eine Conditio sine qua non. Dies bedingt die Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung und ggf. Neuausrichtung des Stabilitätspaktes, sowie des Stabilitäts- und Assoziierungsprozesses für die Region. Ein Scheitern beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und abgesicherter Minderheiten- und Menschenrechte würde die europäische Integration des westlichen Balkans ebenfalls stark in Mitleidenschaft ziehen, weil das Grundprinzip der europäischen Integration, die zunehmende und zunehmend vergemeinschaftete Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und rechtlicher Standards durchbrochen würde. Hinzu kommt: Ein wegen eines oder mehrerer dieser Risiken von der europäischen Integration ausgeschlossener Westbalkan wäre ein instabiler Großraum im Kern des in der ESS postulierten, zu stabilisierenden "Wider Europe".

Die Risken verdeutlichen, dass die der erweiterten Verantwortungsübernahme impliziten Chancen um den Preis des eigenen Scheiterns erfolgreich genutzt werden müssen. Das verstärkte europäische Engagement im westlichen Balkan muss genutzt werden, um

  • den Prozess der Erweiterung der Europäischen Union langfristig fortzuführen;
  • die wirtschaftliche, sicherheitspolitische und rechtliche Stabilisierung des Westbalkans durch eine Integration(sperspektive) als einheitlichen Gesamtprozess zu etablieren sowie
  • die ESVP strategisch, als politisches Instrument und hinsichtlich der ganzen Breite ihrer Wirkinstrumente weiterzuentwickeln.

Dies kann nur gelingen, wenn die Europäische Union die Chance, dass sie erstmals als sicherheitspolitischer Akteur mit militärischen, wirtschaftlichen und (völker)rechtlichen Mitteln aus einer Hand auftreten wird, auch nutzt, um eine Sicherheitspolitik aus einem Guss zu praktizieren. Sie hat durch ihr erweitertes Engagement die ernsthafte Chance, in allen drei Dimensionen des Friedenshandelns gleichzeitig und mit gleicher Stoßrichtung aktiv zu werden. Ihre Aktivitäten können im Vergleich zu den zersplitterten und begrenzteren Zuständigkeiten der bisher zuständigen internationalen Akteure koordinierter und zielgerichteter erfolgen. Hinzu kommt, dass sie mit der "Europäischen Integration" eine ernsthafte und ernstzunehmende langfristige Perspektive anzubieten hat. Zugleich bietet sich ihr die Möglichkeit, erste praxiswirksame Konsequenzen aus zentralen Aussagen der neuen Sicherheitsstrategie ziehen: Militärische Mittel sind allein und auch nicht primär geeignet, die Risiken der Zukunft zu bekämpfen, gerade, wenn diese Risiken auch mit nicht-staatlichen Akteuren verbunden und transnationalen Charakters sind. Mithin: Die Chance der ESVP besteht unter anderem darin, einen wirksameren Mittelmix aus nichtmilitärischen und militärischen Krisenmanagementinstrumenten zu applizieren und mit einer entsprechenden Ressourcenallokation zu versehen, der den drei Dimensionen des Friedenshandelns in wirksamer Form gerecht wird. Die EU bringt dazu gute und ausreichend flexible Voraussetzungen mit. Als ehemals reine "Zivilmacht" verfügt sie über ein breites Instrumentarium nicht-militärischer Instrumente; ihre Ressourcen sind nicht einseitig auf die Implementierung militärisch erreichter Stabilität fokussiert. Der Ansatz Javier Solanas für die Entwicklung der ESVP zielt auf die Ergänzung durch, nicht aber eine dominante militärische Komponente für die ESVP. Zudem ist dieser Politikbereich bislang in einem prozessualen Aufbau begriffen und deshalb noch flexibel genug, um auch kurzfristig "Lessons learned" zu implementieren und Nachjustierungen vorzunehmen, wenn die konkrete Aufgabe oder das strategische Ziel dies gebietet. Die EU hat also eine Chance, die sie nutzen kann.

Damit die strategische Ausformung der ESVP gelingt und als Aufgabenstellung nicht angesichts tagespolitischer Detailfragen und Notwendigkeiten "untergeht", bedarf es einer politischen Fokusierung auf eine zukunftsorientierte Ziel- und Fragestellung, die als visionäre Folie für Rückblick, Lehren und Zukunftsvorschläge dienen kann. Diese visionäre Folie ihrerseits sollte weit genug in der Zukunft liegen, als dass sie die Arbeit an Lehren und Schlussfolgerungen zunächst weitgehend von tagespolitischen Interessen und kurzatmigen Notwendigkeiten freihält – ohne aber solche tagespolitisch relevanten Lehren und deren sofortige Umsetzung zu unterbinden oder zu behindern.

Als eine solche Folie bietet sich die Vision einer "Europäischen Sicherheitspolitik aus einem Guss an", die Vision einer ganzheitlichen Politik, in der die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten all ihre nicht-militärischen und militärischen außen- und sicherheitspolitischen Wirkinstrumente (z.B. Außenwirtschafts- und Außenhandelspolitik, Entwicklungspolitik, Rüstungskontrollpolitik, Nichtverbreitungspolitik, Rüstungsexportpolitik, Diplomatie, Internationale Handels- und Finanzpolitik, Regionalpolitik, aber Militär, Polizei, technische und rechtliche Unterstützung beim Krisenmanagement) abgestimmt, möglichst effizient und konzertiert zur Anwendung bringen, um gemeinsam festgelegte Ziele und Maßnahmen der Konfliktprävention, des Konfliktmanagements und der Konfliktnachsorge zu implementieren. Zugleich wird in dieser Vision angenommen, dass die EU-Staaten sich zu diesem Zweck einer dreifachen Integrationsaufgabe stellen, mittels derer sie ihre Instrumentarien so effizient wie möglich verzahnen und zum Einsatz bringen. Integriert werden müssen

  • erstens die nationalen Sicherheitspolitiken (im erweiterten Sinne),
  • zweitens die vergemeinschafteten und intergouvernementalen Aspekte der europäischen Zusammenarbeit und
  • drittens die möglichen Gestaltungsmittel und Wirkungsinstrumente einer europäischen Sicherheitspolitik aus einem Guss, ganz gleich ob diese derzeit in nationaler, intergouvernementaler oder vergemeinschafteter Verantwortung angesiedelt sind.

Eine solche Vision hat die Chance, den Anspruch einzulösen, dass europäisches Krisenmanagement auf den Stärken und komparativen Vorteilen europäischer nichtmilitärischer Krisenmanagementinstrumente aufsetzen kann und somit daran anknüpft, dass das Standbein europäischen Krisenmanagements auf nicht-militärischem Gebiet zu suchen ist, während die militärischen Mittel tendenziell Spielbein und "letztes Mittel" zur Absicherung der nichtmilitärischen Optionen darstellen. Gerade im Bereich der Krisenprävention, der Konflikteindämmung und der Friedens- und Stabilisierungsmissionen ist ein solches – auf Deeskalation ausgerichtetes Vorgehen – mit Sicherheit das angemessenste. Es bestimmt den wahrscheinlichsten Bereich, in dem europäische Krisenmanagementfähigkeiten, ob nichtmilitärisch oder militärisch, in den kommenden Jahren gefordert sein werden.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS

 


 

Fußnoten:

[1] Zugrundegelegt wird hier ein heuristisches Weltwirtschaftsmodell, das davon ausgeht, dass in jeder geographischen Einheit, ob Staat oder nicht, drei interagierende Wirtschaftssphären existieren, deren Einfluss- und Größenverhältnis zu Aussagen befähigt. Dies sind:

  1. die Sphäre der globalen Ökonomie (legale Wirtschaft), die rechtlichen Verregelungen unterliegt und über ihre Steuerzahlungen zur Handlungsfähigkeit des Staates beiträgt und damit zu dessen Fähigkeit öffentliche Güter wie Bildung oder Sicherheit bereitzustellen;
  2. die Sphäre der informellen Wirtschaft (Grauzonenwirtschaft), deren Akteure sich an bestimmte rechtliche Verregelungen halten (können) und an andere nicht; die Akteure dieser Sphäre sind oft die Verlierer der Globalisierung, ob als "unteres Drittel der eigenen Gesellschaft" oder als halb- oder illegale Arbeitsmigranten. Ihre Wertschöpfung (z.B: Schwarzarbeit) trägt bedingt zum Steueraufkommen bei, wird aber auch teils ermöglicht und abgeschöpft durch
  3. die kriminelle Sphäre der Ökonomie, zu der der international vernetzte Menschen-, Drogenhandel und Waffenhandel gehört und die ihrerseits zwar kaum zur steuerfinanzierten Handlungsfähigkeit von Staaten beiträgt, immer wieder aber Gruppen- oder Territorialstrukturen als Save Heavens schafft, in denen sie begrenzt "Arbeitseinkommen" oder öffentliche Güter bereitstellt.

Es ist offensichtlich, dass die erste und bedingt die zweite Sphäre über die eigenständige Handlungsfähigkeit von Staaten und deren Fähigkeit, öffentliche Güter wie Sicherheit, Wahrung von Menschen- und Minderheitsrechten oder Unterstützung nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung entscheiden. Gestützt werden kann diese zusätzlich von außen z.B. durch Entwicklungs- oder Wiederaufbauhilfen, die aber, wenn dauerhaft, immer auch den Charakter von externen Rentenzahlungen haben.
Die Kriegsökonomien sogenannter kleiner Kriege können sich seit dem Ende des Kalten Krieges immer weniger auf eine Rentenzahlung durch externe staatliche Akteure verlassen, sondern sind immer stärker auf Einnahmen aus der kriminellen Sphäre der Ökonomie –teilweise unterstützt durch eine zweite Art von Rentenzahlungen (Überweisungen/"Spenden"/Zwangssteuern von Arbeitsmigranten / Diaspora) – angewiesen. Sie ähneln damit oft sehr stark den Gewaltökonomien, die auch als Resultat mangelnder staatlicher Handlungsfähigkeit, oft Prä- und Postkriegssituationen bestimmen.
In der Tendenz gewinnen Gewaltökonomien als Folge der Globalisierung zunehmend an Bedeutung, weil sie immer mehr das Leben in Regionen bestimmen, die durch Armutsurbanisierung im städtischen Raum oder im ländlichen Raum durch die Eliminierung bäuerlicher Subsistenzwirtschaft geprägt sind. Mit beiden Prozessen geht nämlich eine drastische Reduzierung der Überlebenselastizität der betroffenen Bevölkerungen einher, weil sich die Zeiträume "gesicherter Versorgung" mit dem Lebensnotwendigen drastisch verkürzen und dadurch die Verletzlichkeit großer Bevölkerungsgruppen durch gewaltökonomische Akteure bei Handlungsunfähigkeit des Staates ebenso drastisch steigt. . (Diese Überlegungen greifen auf unveröffentlichte Arbeiten von Dr. Peter Lock, Hamburg, zurück.)

[2] Es gibt viele "logische", "rechtfertigende" und "sachliche" Gründe dafür, dass dies so ist. Ich sehe sie und erkenne ihr Recht an – angefangen, von der Tatsache, dass das Militär meist zuerst vorort ist, dass der Aufbau ziviler Krisenmanagementstrukturen oft langsam, teils unkoordiniert und nicht zuletzt auch oft mit weniger Effizienz verbunden ist bis hin zu der Frage eines "sicheren Umfeldes" für die zivilen Krisenmanagementstrukturen. Teils wirken auch die zivilen Krisenmanagementstrukturen in diese Richtung, denn auch die Menschen, die in diese eingebunden sind, "profitieren" von einem sicheren Umfeld, wollen ihre Aufgaben und Zuständigkeiten gewahrt wissen und entwickeln somit ein am Status-Quo orientiertes Beharrungsvermögen, das Fortschritte bei der Umwandlung der örtlichen "Post-Conflict-Society" in eine sich nachhaltig entwickelnde eigenständige Gesellschaft auf dem Wege der "Hilfe zur Selbsthilfe" verzögern, behindern oder manchmal gar verhindern. Hinzu kommen Hemmnisse die sich aus der Multinationalität der Einsätze und des "multikulturellen" Verständnisses von effizienten "Krisenmanagementstrukturen" ergeben.

[3] Sie sind zudem ein gutes Beispiel dafür, wie angesichts mangelnden Entwicklungsfortschritte der Nachkriegsgesellschaft jederzeit über eine Mobilisierung "ethnischer" oder "nationalistischer" Emotionen durch lokale Akteure allein den internationalen Akteuren die Schuld an mangelnden Fortschritten zugewiesen werden kann, während von den lokalen Akteuren scheinbar ein substantieller Veränderungs- und Fortschrittswille ausgeht.

[4] Dabei spielt es zunächst keine bedeutende Rolle, ob die aktiven örtlichen Konfliktparteien ihre Versprechen auch einhalten oder finanzieren könnten; zum einen offerieren sie primär "politisch-ideologische" Fortschritte, mit denen für sie ein Machtzuwachs verbunden wäre. Zum anderen wird (wahrheitswidrig) suggeriert, dass alle anderen Forschritte (z.B. wirtschaftliche Entwicklung) eine logische und fast automatische Konsequenz des politisch-ideologischen Fortschritts seien.

[5] Auch dies ist ein zweischneidiges Schwert, denn diese Ressourcen fließen oft an die direkten gewaltökonomischen Nachfolge- oder Hauptakteure der früheren Kriegsökonomie, die ihrerseits oft aus der Schatten- oder kriminellen Wirtschaftssphäre kommen und der Organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. Sie haben sich begrenzte Rentiersysteme aufgebaut, die über persönliche Abhängigkeiten ihren politischen Einfluss – einschließlich Wählerpotentialen – absichern und damit nicht nur zu vermehrter Korruption und Patronage, sondern auch systematisch zu einem Nichterstarken der Handlungsfähigkeit der neuen staatlichen Strukturen beitragen, d.h. zu einer Perpetuierung des Status Quo an "Nichtstaatlichkeit". Zudem: Würden sich diese Strukturen gemäß Szenario in FN 3 politisch durchsetzen, so wäre die Ablösung einer mangelhaft handlungsfähigen Staatlichkeit durch eine OK-kontrollierte Staatlichkeit eine der möglichen und wahrscheinlichen Folgen.

[6] Manch Schritt im wirtschaftlichen Bereich ist sogar kontraproduktiv: So kann mit einem gewissen Recht gefragt werden, ob Marktöffnung und Orientierung auf "Weltmarktfähigkeit" kluge strategische Orientierungen sind, wenn mit ihnen eine Reduzierung des Beitrags der kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft zur Versorgung der Bevölkerung verbunden ist. Zu fragen wäre auch, ob ein gewisser protektionistischer Schutz örtlicher Wirtschaftsstrukturen entwicklungsfördernder wäre. Schließlich die berühmten "Einzelfälle": Wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten bleiben ungenutzt, weil Konkurrenzen zu Segmenten der Volkswirtschaften der Geberländer aus der Internationalen Gemeinschaft entstehen könnte oder weil örtliche OK-Strukturen um Einnahmequellen oder Einfluss fürchten, bzw. keinen stärkeren und handlungsfähigeren Staat wollen. M.a.W.: Die diversen Rentiermodelle der örtlichen Ökonomie werden aufgrund sich ergänzender oder überlappender Interessen der Akteure prolongiert, Fortschritt und nachhaltige Entwicklung werden be- und verhindert. (Ähnlich könnte auch mit Blick auf Privatisierung, Steuer- und Zollsysteme u.v.a.m. argumentiert werden.)