Der Westbalkan 2005
Einige konzeptionelle Überlegungen
von Otfried Nassauer
Viel spricht dafür, dass 2005 ein wichtiges, vielleicht sogar
entscheidendes Jahr für die Zukunft des Balkans wird. In Bosnien will die Europäische
Union mit der Mission Althea den SFOR-Einsatz der NATO ablösen und damit ihre erste
größere Friedensmission im Rahmen der sich entwickelnden ESVP aufnehmen. Zugleich jährt
sich 2005 der Dayton-Vertrag zum zehnten Mal und mit ihm wird der Versuch zehn Jahre alt,
mit Hilfe massiver internationaler Truppenpräsenz und finanzieller Hilfe aus dem durch
Krieg zerrütteten Bosnien-Herzegowina einen stabilen multi-ethnischen Staat mit
funktionierenden Institutionen aufzubauen. Mittlerweile gibt es eine intensive Diskussion,
wie diese immer noch nicht geleistete - Aufgabe "Beyond Dayton", also auf
neuer Grundlage endlich bewerkstelligt werden kann. 2005 aber jährt sich auch das
Massaker von Srebenica zum zehnten Mal ein Anlass, der alte Wunden und Zweifel an
den Fähigkeiten der Internationalen Gemeinschaft zum erfolgreichen Krisenmanagement
wieder aufreißen könnte.
Für den Kosovo wurde am Ende des Kosovo-Krieges 1999 vereinbart, im
Jahr 2005 mit Gesprächen über den endgültigen völkerrechtlichen Status der Provinz,
derzeit ein faktisches UN-Protektorat, zu beginnen. In welcher Form dies geschehen soll,
dafür gibt es bislang keine offiziellen Vorschläge. Zugleich aber mehren sich die
kritischen Stimmen, die fürchten, dass die vor einigen Jahren von Michael Steiner
proklamierte und seit her handlungsleitende These "Standards vor Status"
zunehmend kontraproduktiv wird und durch einen neuen Ansatz abgelöst werden sollte.
Schließlich haben die Unruhen im März 2004 verdeutlicht, dass nicht auszuschließen ist,
dass kosovo-albanische Nationalisten über einen "zweiten Befreiungsaufstand",
diesmal gegen die Präsenz von NATO und UNMIK, nachdenken, um sich zu nehmen, was ihnen
derzeit niemand so recht geben will die staatliche Unabhängigkeit.
Makedonien, der dritte Konfliktherd des Balkans, ist mit der
Zurückweisung des Volksbegehrens gegen die den Ohrid-Vertrag umsetzende Reform der
Gebietskörperschaften Ende 2004 an einer erneuten, größeren politischen Krise noch
einmal vorbeigeschrammt. Latent krisenhaft aber bleibt die Entwicklung weiter dies
zeigt nicht zuletzt der kurz darauf erfolgte Rücktritt des mazedonischen Premierministers
und der Streit um die Rolle von Organisierter Kriminalität und Korruption, den er mit
seiner Rücktrittsbegründung auslöste. Die Regierungsneubildung unter Vlado Buchkovski
gestaltete sich schwierig. Hinzu kommt die enge Wechselwirkung des Konfliktes in
Makedonien mit den Entwicklungen vor allem im Kosovo, aber auch im Presovo-Tal eine
Wechselwirkung, die nicht zuletzt darauf verweist, dass es mit Blick auf die
künftige Rolle und das künftige Gewicht Serbiens auf dem Balkan auch
Wechselwirkungen zwischen praktisch allen noch ungelösten Balkankonflikten,
einschließlich Bosnien-Herzegowinas, gibt.
Der Blick auf das potentiell schwierige Jahr 2005 offeriert somit einen
erneuten und gewichtigen Anlass, einen kritischen Rückblick auf die bisherigen
Aktivitäten der Internationalen Gemeinschaft zu werfen, um Lehren aus den durchwachsenen
Ergebnisse und im Blick auf die eigenen Ansprüche teils sogar gescheiterten Bemühungen
der Internationalen Gemeinschaft zur Stabilisierung des Westbalkans zu ziehen. Auf diesem
Wege können Defizite identifiziert werden und möglicherweise alternative
Lösungsmöglichkeiten in den Blick kommen.
Dieses Papier versucht einen solchen Denk- und Arbeitsprozess
anzustoßen und wählt vor allem und gerade weil die Europäische Union auf dem
Balkan künftig ihre sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit verstärkt unter Beweis
stellen will die ESVP und die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) des
Europäischen Rates aus dem Jahr 2003 sowie den Denkansatz einer "Europäischen
Sicherheitspolitik aus einem Guss" als Folien, auf deren Hintergrund eine solche
Diskussion und Analyse produktiv gemacht werden kann. Die erste Folie bietet sich an, weil
Europas ESVP auf dem Balkan "zum Erfolg verdammt" ist, will sie als bedeutende
Perspektive der weiteren europäischen Integration nicht deutlich verlieren. Die zweite
Folie erscheint sinnvoll, weil die ESS zur Zeit für eine Sicherheitspolitik im Werden
steht, also einen fortlaufenden Prozess, der seinerseits gegen "eine
(wünschenswerte) Vision" gegengelegt werden sollte, damit er sich nicht allein quasi
naturwüchsig und zielfrei aus tagespolitischen Handlungsnotwendigkeiten und
bottom-up-Pragmatismen ergibt. Das letztere Vorgehen würde einer strategischen
Zielsetzung nicht "gut tun". Analyse und Diskussion bedürfen eines gewissen
Abstandes zur Tagespolitik und ihren Notwendigkeiten sowie einer längerfristig
strategisch orientierten Korrekturfolie. Daneben können tagespolitische Aspekte und
Fragen zur Sprache kommen aber eben nur "daneben".
Der Balkan als Prüfstein für die ESVP
Es gibt verschiedene Motive dafür, dass die Europäische Union sich
immer stärker auch militärisch - auf dem Balkan engagiert. Dazu gehören u.a.
- die geographische Nähe und damit die Zugehörigkeit zu dem zu stabilisierenden
"Wider Europe" der Europäischen Sicherheitsstrategie;
- das Interesse vieler EU-Staaten, das Entstehen eines geographischen Risikoraumes zu
verhindern, in dem sich die in der ESS teils offen teils implizit benannten Risiken
illegaler Migration, des Drogenhandels, der Organisierten Kriminalität, aber auch
erneuter Bürgerkriege oder künftig eines Islamischen Fundamentalismus in unmittelbarer
Nähe zur EU-Außengrenze entfalten können;
- die "europäische Perspektive", die auch dem westlichen Balkan mittel- und
langfristig eröffnet werden muss, soll und wird, wie der in Thessaloniki verabredete
Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess deutlich macht;
- die vergleichsweise geringe Konkurrenz zu den USA um die Zuständigkeit für die
regionale Stabilisierung; sowie
- der Bedarf der Europäische Union an begrenzten, aber aufwuchsfähigen
"Übungsfeldern" für die Erprobung der entstehenden europäischen
Krisenmanagementpolitiken und instrumente.
Mithin: Die Balkankonflikte bieten scheinbar "vergleichsweise
günstige" Voraussetzungen dafür, im wohlverstandenen Eigeninteresse die neuen
Mittel und Instrumente der ESVP zu testen, den EU-Anspruch auf eine größere Rolle beim
europa-nahen Krisenmanagement versuchsweise praktisch einzulösen und Erfahrungen wie
Lehren für die Weiterentwicklung der ESVP zu sammeln. Dafür stehen sicherheitspolitisch
die erfolgte Übernahme der NATO-Mission in Mazedonien und deren späterer Ersatz durch
eine EU-Polizeimission ebenso wie die zu Beginn 2005 anstehende Übernahme weiter Teile
der NATO-Mission SFOR durch die EU-Mission Althea in Bosnien-Herzegowina. Die dortige
Polizeimission führt die EU bereits ebenfalls. Nicht auszuschließen ist, dass die EU
mittelfristig auch mit dem Gedanken spielen wird, die KFOR-Mission im Kosovo zu
übernehmen. Denn letztlich daran zweifelt wohl niemand muss der West-Balkan
längerfristig insgesamt eine "europäische Perspektive" erhalten, die auf seine
stufenweise Integration in die Europäische Union hinausläuft.
Auffällig ist, dass das ursprünglich gewichtigste ökonomische
Instrument Europas zur Stabilisierung des Balkans, der Stabilitätspakt, mittlerweile in
den öffentlichen Überlegungen zur Stärkung der europäischen Rolle auf dem Balkan oft
nur noch am Rande erwähnt wird und nach hoffnungs- und erwartungsweckendem Beginn in den
vergangenen Jahren sígnifikant an öffentlicher Sichtbarkeit eingebüßt hat. Fast
möchte man meinen, er sei in der Versenkung verschwunden oder habe sich in seine
tagespolitisch motivierten Einzelaufgaben und projekte aufgelöst. Von der
Erfüllung seiner wichtigsten Aufgabe, nämlich dazu beizutragen, die Nachkriegsökonomien
auch des Balkans so zu transformieren, dass mittel- oder längerfristig eine Integration
des Westbalkans in die Europäische Union möglich erscheint, ist er jedenfalls noch weit
entfernt. Dieser Perspektive fehlt es vorort vielfach noch an Glaubwürdigkeit,
Überzeugungskraft und alternativer Strahlkraft. Auch der in Thessaloniki verabredete
Stabilisierungs- und Assoziierungsprozeß für die Länder des westlichen Balkans hat
dieses Perzeptionsproblem bisher nicht lösen können. Viele Nachkriegsökonomien des
Westbalkans haben sich bisher stärker zu Schatten- und Gewaltökonomien entwickelt, denn
zu Ökonomien, die in der globalen auf absehbare Zeit wettbewerbsfähig mitwirken
könnten. [1]
Dies ist aber nur ein Indiz dafür, dass die sich entwickelnde ESVP
gleich in mehreren Punkten ihren eigenen Ansprüchen zur Zeit aus strukturellen Gründen
(noch) nicht gerecht werden kann oder aber gedanklich (noch) zu kurz greift. So
argumentiert beispielsweise die ESS, dass Sicherheit (Stabilität) die Voraussetzung für
nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung sei. Den zumindest ebenso zutreffenden
Umkehrschluss, dass wirtschaftliche Entwicklung die Voraussetzung für Frieden
(Stabilität) sei, sucht man dagegen vergebens. Ein ähnliches Manko zeigt sich in dem
für den Kosovo-Konflikt so wichtigen Ansinnen "Standards vor Status" zu
schaffen und zu entscheiden. Minderheits- und Menschenrechte sollen im Kosovo
gewährleistet werden, bevor über den endgültigen Status der Provinz beschlossen wird.
Oder formulieren wir es anders: Die Menschenrechts- und Minderheitenlage ist eine
Voraussetzung für Stabilität. Und der Umkehrschluss? Gilt er nicht auch? Stabilität,
ein geklärter völkerrechtlicher Status als Voraussetzung für die Einhaltung von
Menschen- und Minderheitsrechten?
Ein weiteres Indiz oder Anzeichen struktureller gedanklicher Mängel
ist das Nebeneinander des Benutzens unzureichend definierter und unklar verwendeter
Begrifflichkeiten wie "nation-building" oder "state-building". Wie so
viele Begrifflichkeiten, die kurz nach dem Ende des Kalten Krieges im Kontext der schnell
aufwachsenden Industrie der "Soft Security - Spezialisierten" entwickelt wurden,
lassen sie allgemein akzeptierte Definitionen vermissen und damit viel Raum für
konkurrierende, multikulturelle Konfliktmanagementansätze.
Status-Quo-Orientierung, Stabilitätsfixierung und das Heft des Handelns
Eines der wichtigsten Hemmnisse für die Wirksamkeit der ESVP wie der
Internationalen Sicherheitspolitischen Akteure auf dem Balkan ist deren
Status-Quo-Orientierung bzw. Stabilitätsfixierung. Diese resultiert weitgehend aus der
Priorität bzw. dem Übergewicht des Mittels "Militär" als Hauptinstrument des
Stabilisierungsversuchs. Ob das Festhalten an der "Standards vor Status"-Frage
im Kosovo oder die Ängste vor einem "Beyond Dayton-Prozess" in Bosnien
Herzegowina immer wieder wird deutlich, dass das erreichte "Ist" an
traditioneller sicherheitspolitischer Stabilisierung Gefahr läuft, zu einer heiligen Kuh
zu werden, die nicht angetastet werden darf, auch wenn sie einer Weiterentwicklung von
Demokratie, Menschen- und Minderheitsrechten sowie der wirtschaftlichen Entwicklung oder
der Herausbildung neuer funktionsfähiger staatlicher Institutionen buchstäblich im Wege
steht. [2]
Betrachtet man jedoch die ungewollten Nebenwirkungen, so wird schnell
deutlich, dass eine solche Politik nicht nur das Heft des Handelns, also die Initiative,
aus der Hand gibt, sondern auch riskiert, dass sich in der örtlichen Gesellschaft ein
Gefühl mangelnden Fortschritts, ja von Stillstand ausbreitet und sich bei einer oder
mehreren Konfliktparteien über die Zeit Frustrationen aufbauen können. Diese können
sich im Handeln einzelner, potentiell zur Lageveränderung fähiger örtlicher Akteure
entladen, wenn diese Akteure die Bereitschaft zur Status-Quo-Veränderung haben und
beispielsweise via ethnischer Argumentationslinien über ein Mobilisierungsmittel
verfügen. Schuldig am Stillstand sind dann schnell allein die Internationalen. Die
organisierten Unruhen im März 2004 im Kosovo sind ein gutes Beispiel für einen noch
vorsichtigen Test dieser Art.[3] Sind es aber
wieder örtliche Konfliktparteien (und nicht mehr die per Intervention inthronisierten
internationalen Akteure), die als Hauptakteure des künftigen, potentiell zügigen Wandels
wahrgenommen werden, so bestimmen örtliche Akteure mit ihren öffentlichen, Hoffnungen
weckenden Versprechungen auf Wandel schnell wieder den Konfliktverlauf.[4] Die internationalen Akteure dagegen befinden
sich dann auf dem Rückzug in die Status-Quo-Erhaltung, d.h. in einer strategischen
Defensive hinsichtlich des Prozesses und der Aufgabe, stabile, demokratische und
wirtschaftlich entwicklungsfähige staatliche Strukturen aufzubauen. Ihre zunächst
positiv bewertete Rolle reduziert sich immer weiter auf die Infusion finanzieller
Ressourcen;[5] positive politische Impulse
werden von ihnen vorort immer weniger erwartet. Diese Position mag sie im günstigsten
Fall dazu befähigen, den Status-Quo aufrechtzuerhalten und den offenen Aufbruch neuer
Gewalttätigkeiten zu verhindern. Es befähigt sie aber sicher nicht länger, einen
wirklichen Friedensprozess voranzutreiben. Denn dieser würde es bedingen, wo immer
möglich die Initiative zu ergreifen und als Antreibender, nicht als Getriebener des
Wandels zu agieren und gemeinsam mit den Konfliktparteien an einer sich ständig weiter
entwickelnden Zukunftsvision zu arbeiten.
Staatenbildung und Friedensprozesse
Die Betrachtung der diversen Stabilisierungsversuche der
Internationalen Gemeinschaft auf dem Balkan führt zu einer wichtigen, weil
problematischen Beobachtung. Um diese besser verständlich zu machen, ist ein kurzer
theoretischer Exkurs vorweg sinnvoll:
Der deutsche Philosoph und Bildungstheoretiker Georg Picht entwickelte
gegen Ende der 60er Jahre einen eigenen Friedensbegriff. Picht wollte Frieden nicht als
Zustand verstanden wissen, schon gar nicht als den Gegenzustand zu Krieg, sondern als
Prozess. Frieden war für ihn ein kontinuierlicher Prozess des Friedenshandelns, in dem es
darum gehen müsse, die kriegsfördernden Faktoren Not, Gewalt und Unfreiheit gemessen am
jeweils gerade existierenden Ausgangsniveau immer wieder neu zu minimieren. Die
Minimierung von Not, Gewalt und Unfreiheit betrachtete Picht als gleichberechtigte
Dimensionen des Friedenshandelns. Bei der Beurteilung, ob Friedenshandeln gelinge, komme
es nicht primär auf je eine der Dimensionen des Friedenshandelns an, sondern darauf, dass
die kriegsfördernde Wirkung aller Faktoren zusammen abnehme.
Auf dem Hintergrund dieser Folie betrachtet, werden die Schwächen der
Stabilisierungsversuche auf dem Balkan sehr schnell deutlich: Die ethnischen
Auseinandersetzungen bzw. die Frage der Minderheitenrechte gehören in die Dimension der
"Unfreiheit", die wirtschaftliche Perspektive und Entwicklung in die Dimension
der "Not" und die "Stabilitätsfrage" gehört in die Dimension der
"Gewalt" leicht vereinfacht betrachtet.
Niemand kann berechtigterweise ehrlich und überzeugt behaupten, dass
Handeln der Internationalen Gemeinschaft oder der örtlichen Konfliktparteien habe in den
vergangenen Jahren mit gleichem Gewicht allen drei Faktoren bzw. deren Minimierung
gegolten und habe gleichberechtigt in allen drei Dimensionen stattgefunden. Im Gegenteil:
Das Hauptaugenmerk der Internationalen Gemeinschaft galt der Reduzierung des Faktors
Gewalt. Lösungen der wirtschaftlichen Entwicklungsprobleme oder Fragen der ethnischen
Differenzen bzw. der Minderheitenrechte wurden vergleichsweise nachrangig gewichtet und
flexibler gehandhabt. Ähnliches galt für das Handeln der örtlichen Konfliktparteien.
Bei diesen stand rhetorisch meist die Perspektive ihrer Volksgruppe und deren Gewichtung
im Vergleich zu anderen Volksgruppen im Vordergrund die sicherheitspolitische
Stabilität und vor allem die wirtschaftliche Entwicklung waren dagegen von geringerer
Bedeutung, also die Variablen. Ganz gleich, ob man auf die Konflikte in Makedonien und den
Ohrid-Prozess oder auf den Kosovo und die "Standards vor Status-These" oder auf
Bosnien und die "Beyond Dayton-Fragestellungen" blickt es zeigt sich,
dass für die Akteure der einzelnen Prozesse, wenn es hart auf hart kommt, immer eine der
Dimensionen im Vordergrund steht und oft die beiden anderen schnell als Variablen
betrachtet und gehandhabt werden. Viel mangelnder Fortschritt erklärt sich aus Blockaden,
die daraus entstehen, dass die einzelnen Akteure unterschiedliche Dimensionen in den
Vordergrund rücken und auf diesem Gebiet ihren Vorteil (und "balkan-typisch"
weniger den Kompromiss) suchen. Mangelnder Fortschritt ist damit auch das Ergebnis eines
verengten, interessengeprägten Blickwinkels.
Alle Akteure messen einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung und
deren Absicherung gegen Organisierte Kriminalität und Korruption eine vergleichsweise
geringe faktische Bedeutung zu und tragen damit dazu bei, dass sich den je einzelnen (oft
unpolitisch agierenden) Menschen außerhalb der Akteursgruppen keine wirklich alternative
Perspektive auf Arbeit und verbesserte Lebensumstände bietet.[6]
Ähnliches gilt für den Bereich der Bildung. Deren Funktion,
alternative Eliten auszubilden und damit den Wandel zu einer Zivilgesellschaft
demokratischen Charakters vorzubereiten, gehört ebenfalls zu den oft vernachlässigten
Sektoren. Auch dieses Versäumnis wirkt letztlich im Sinne einer der Perpetuierung des
Status Quo und der Aufrechterhaltung überkommener, wenn nicht sogar kontraproduktiver
Machtverhältnisse.
Betrachtet man dagegen die Konflikte aus der Perspektive der
Dreidimensionalität des Pichtschen Friedenshandelns, so wächst zwar die
Komplexität der Aufgabe und die potentieller Lösungsansätze, aber auch die Zahl der
potentiell den Konfliktparteien zu offerierenden Win-Win-Lösungen.
ESS und "Europäische Sicherheitspolitik aus einem Guss"
Die Entscheidungen des Europäischen Rates, mittels der ESVP
verstärkten Einfluss und verstärkte Verantwortung auf und für die Stabilisierung des
westlichen Balkans und seine Heranführung an die europäischen Integration zu
übernehmen, sind Risiko und Chance zugleich.
Das ESVP-Engagement im Westbalkan ist zum Erfolg verdammt. Im Falle
seines Scheiterns und dieses droht bereits bei einem Versagen hinsichtlich auch nur
einer der drei Dimensionen des Friedenshandelns bleibt mehr als nur ein ungelöster
regionaler Konflikt zurück. Ein Scheitern würde die ESVP als europäisches
Handlungsinstrument in Gänze gefährden und zudem den europäischen Integrationsprozess
deutlich schwächen. Dies wird schon aus wenigen, grundsätzlichen Überlegungen deutlich:
Ein westlicher Balkan, der auf Dauer latent eine potentielle militärische Konfliktregion
bleibt, kann nicht erfolgreich in die EU integriert werden. Eine Integration von
Volkswirtschaften mit überwiegend informellen oder kriminellen Sphären oder gar den
Charakteristika von Gewaltökonomien in die heutige EU verbietet sich ebenfalls. Die ESS
sieht in der Organisierten Kriminalität (wie im transnationalen Terrorismus) zurecht
eines der wesentlichen transnationalen Sicherheitsrisiken der Zukunft. Das weitgehende
Gelingen der ökonomischen Transformation des Westbalkans ist somit eigentlich eine
Conditio sine qua non. Dies bedingt die Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung und
ggf. Neuausrichtung des Stabilitätspaktes, sowie des Stabilitäts- und
Assoziierungsprozesses für die Region. Ein Scheitern beim Aufbau rechtsstaatlicher
Strukturen und abgesicherter Minderheiten- und Menschenrechte würde die europäische
Integration des westlichen Balkans ebenfalls stark in Mitleidenschaft ziehen, weil das
Grundprinzip der europäischen Integration, die zunehmende und zunehmend
vergemeinschaftete Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und rechtlicher
Standards durchbrochen würde. Hinzu kommt: Ein wegen eines oder mehrerer dieser Risiken
von der europäischen Integration ausgeschlossener Westbalkan wäre ein instabiler
Großraum im Kern des in der ESS postulierten, zu stabilisierenden "Wider
Europe".
Die Risken verdeutlichen, dass die der erweiterten
Verantwortungsübernahme impliziten Chancen um den Preis des eigenen Scheiterns
erfolgreich genutzt werden müssen. Das verstärkte europäische Engagement im westlichen
Balkan muss genutzt werden, um
- den Prozess der Erweiterung der Europäischen Union langfristig fortzuführen;
- die wirtschaftliche, sicherheitspolitische und rechtliche Stabilisierung des Westbalkans
durch eine Integration(sperspektive) als einheitlichen Gesamtprozess zu etablieren sowie
- die ESVP strategisch, als politisches Instrument und hinsichtlich der ganzen Breite
ihrer Wirkinstrumente weiterzuentwickeln.
Dies kann nur gelingen, wenn die Europäische Union die Chance, dass
sie erstmals als sicherheitspolitischer Akteur mit militärischen, wirtschaftlichen und
(völker)rechtlichen Mitteln aus einer Hand auftreten wird, auch nutzt, um eine
Sicherheitspolitik aus einem Guss zu praktizieren. Sie hat durch ihr erweitertes
Engagement die ernsthafte Chance, in allen drei Dimensionen des Friedenshandelns
gleichzeitig und mit gleicher Stoßrichtung aktiv zu werden. Ihre Aktivitäten können im
Vergleich zu den zersplitterten und begrenzteren Zuständigkeiten der bisher zuständigen
internationalen Akteure koordinierter und zielgerichteter erfolgen. Hinzu kommt, dass sie
mit der "Europäischen Integration" eine ernsthafte und ernstzunehmende
langfristige Perspektive anzubieten hat. Zugleich bietet sich ihr die Möglichkeit, erste
praxiswirksame Konsequenzen aus zentralen Aussagen der neuen Sicherheitsstrategie ziehen:
Militärische Mittel sind allein und auch nicht primär geeignet, die Risiken der Zukunft
zu bekämpfen, gerade, wenn diese Risiken auch mit nicht-staatlichen Akteuren verbunden
und transnationalen Charakters sind. Mithin: Die Chance der ESVP besteht unter anderem
darin, einen wirksameren Mittelmix aus nichtmilitärischen und militärischen
Krisenmanagementinstrumenten zu applizieren und mit einer entsprechenden
Ressourcenallokation zu versehen, der den drei Dimensionen des Friedenshandelns in
wirksamer Form gerecht wird. Die EU bringt dazu gute und ausreichend flexible
Voraussetzungen mit. Als ehemals reine "Zivilmacht" verfügt sie über ein
breites Instrumentarium nicht-militärischer Instrumente; ihre Ressourcen sind nicht
einseitig auf die Implementierung militärisch erreichter Stabilität fokussiert. Der
Ansatz Javier Solanas für die Entwicklung der ESVP zielt auf die Ergänzung durch, nicht
aber eine dominante militärische Komponente für die ESVP. Zudem ist dieser
Politikbereich bislang in einem prozessualen Aufbau begriffen und deshalb noch flexibel
genug, um auch kurzfristig "Lessons learned" zu implementieren und
Nachjustierungen vorzunehmen, wenn die konkrete Aufgabe oder das strategische Ziel dies
gebietet. Die EU hat also eine Chance, die sie nutzen kann.
Damit die strategische Ausformung der ESVP gelingt und als
Aufgabenstellung nicht angesichts tagespolitischer Detailfragen und Notwendigkeiten
"untergeht", bedarf es einer politischen Fokusierung auf eine
zukunftsorientierte Ziel- und Fragestellung, die als visionäre Folie für Rückblick,
Lehren und Zukunftsvorschläge dienen kann. Diese visionäre Folie ihrerseits sollte weit
genug in der Zukunft liegen, als dass sie die Arbeit an Lehren und Schlussfolgerungen
zunächst weitgehend von tagespolitischen Interessen und kurzatmigen Notwendigkeiten
freihält ohne aber solche tagespolitisch relevanten Lehren und deren sofortige
Umsetzung zu unterbinden oder zu behindern.
Als eine solche Folie bietet sich die Vision einer "Europäischen
Sicherheitspolitik aus einem Guss an", die Vision einer ganzheitlichen Politik, in
der die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten all ihre nicht-militärischen und
militärischen außen- und sicherheitspolitischen Wirkinstrumente (z.B. Außenwirtschafts-
und Außenhandelspolitik, Entwicklungspolitik, Rüstungskontrollpolitik,
Nichtverbreitungspolitik, Rüstungsexportpolitik, Diplomatie, Internationale Handels- und
Finanzpolitik, Regionalpolitik, aber Militär, Polizei, technische und rechtliche
Unterstützung beim Krisenmanagement) abgestimmt, möglichst effizient und konzertiert zur
Anwendung bringen, um gemeinsam festgelegte Ziele und Maßnahmen der Konfliktprävention,
des Konfliktmanagements und der Konfliktnachsorge zu implementieren. Zugleich wird in
dieser Vision angenommen, dass die EU-Staaten sich zu diesem Zweck einer dreifachen
Integrationsaufgabe stellen, mittels derer sie ihre Instrumentarien so effizient wie
möglich verzahnen und zum Einsatz bringen. Integriert werden müssen
- erstens die nationalen Sicherheitspolitiken (im erweiterten Sinne),
- zweitens die vergemeinschafteten und intergouvernementalen Aspekte der europäischen
Zusammenarbeit und
- drittens die möglichen Gestaltungsmittel und Wirkungsinstrumente einer europäischen
Sicherheitspolitik aus einem Guss, ganz gleich ob diese derzeit in nationaler,
intergouvernementaler oder vergemeinschafteter Verantwortung angesiedelt sind.
Eine solche Vision hat die Chance, den Anspruch einzulösen, dass europäisches
Krisenmanagement auf den Stärken und komparativen Vorteilen europäischer
nichtmilitärischer Krisenmanagementinstrumente aufsetzen kann und somit daran anknüpft,
dass das Standbein europäischen Krisenmanagements auf nicht-militärischem Gebiet zu
suchen ist, während die militärischen Mittel tendenziell Spielbein und "letztes
Mittel" zur Absicherung der nichtmilitärischen Optionen darstellen. Gerade im
Bereich der Krisenprävention, der Konflikteindämmung und der Friedens- und
Stabilisierungsmissionen ist ein solches auf Deeskalation ausgerichtetes Vorgehen
mit Sicherheit das angemessenste. Es bestimmt den wahrscheinlichsten Bereich, in
dem europäische Krisenmanagementfähigkeiten, ob nichtmilitärisch oder militärisch, in
den kommenden Jahren gefordert sein werden.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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