Streitkräfte und Strategien - NDR info
28. Juni 2003


Die EU-Sicherheits-Doktrin - Realistischer Gegenentwurf zur offensiven US-Strategie?

Otfried Nassauer


Es wäre wahrlich ein Wunder gewesen, hätte Javier Solana jenen Wunsch erfüllen können, den ihm die Außenminister der EU-Staaten im Mai auf Rhodos übermittelt hatten: Der Hohe Repräsentant der EU-Außen- und Sicherheitspolitik möge, so die Minister, bis zum EU-Gipfel in Thessaloniki knapp sieben Wochen später, eine Sicherheitsstrategie für die EU entwerfen.

Wunder dauern bekanntlich etwas länger. So auch in diesem Fall. Als Solana vergangene Woche vor die Staats- und Regierungschefs trat, konnte er zwar mit ersten Grundlinien für eine europäische Sicherheitsstrategie aufwarten, nicht aber mit einem fertigen Strategie-Dokument. Seit fast drei Jahren mahnen Experten die Notwendigkeit an, eine grundlegende Zielbestimmung und Beschreibung der europäischen Sicherheitspolitik vorzunehmen. Doch erst jetzt haben sich die EU-Staaten endlich dazu durchringen können, das Vorhaben politisch zu billigen und praktisch anzugehen. Nun sollte auch Zeit sein, die Aufgabe mit der gebotenen Gründlichkeit zu bearbeiten.

Fragen wir also zunächst: Was muss eine sicherheitspolitische Strategie der Europäischen Union theoretisch mindestens leisten? Sie müsste

  1. den Sicherheitsbegriff der EU beschreiben und den geographischen Raum, in dem die EU sicherheitspolitisch aktiv sein will;
  2. die sicherheitspolitischen Risiken und Herausforderungen analysieren, vor denen die EU steht;
  3. aufzeigen, welche zivilen und militärischen Mittel die EU hat bzw. brauchen würde, um die Sicherheit der EU- Staaten und ihrer Bürger angesichts der bestehenden Risiken zu gewährleisten;
  4. die europäischen Interessen regional und global bestimmen;
  5. die Prioritäten der Außen- und Sicherheitspolitik Europas festlegen
  6. Kriterien nennen, nach denen entschieden werden kann, wann die EU sich aktiv beim zivilen und militärischen Krisenmanagement engagiert und wann nicht;

Und schließlich müsste eine sicherheitspolitische Strategie beschreiben, auf welchem Wege Europa seine Mittel wirksam verknüpfen will und wie diese gezielt und koordiniert zum Einsatz gebracht werden können.

Gemessen an diesen theoretischen Anforderungen enthalten Solanas Grundzüge für eine europäische Sicherheitspolitik Licht und Schatten, richtige Ansätze aber auch Lücken, die noch ausgefüllt werden müssen. Richtig sind beispielsweise viele seiner Ausgangsüberlegungen. Zitat: "Als Union von 25 Staaten mit mehr als 450 Millionen Menschen, die ein Viertel des Bruttosozialproduktes der Erde erwirtschaften, ist die Europäische Union - man mag das gut finden oder nicht – ein globaler Akteur. Sie sollte bereit sein, ihren Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit zu übernehmen." Für manchen eine vielleicht unbequeme Wahrheit. Die EU kann sich ihrer Mitverantwortung für die Gestaltung von Weltordnung nicht entziehen.

Auch macht das Papier deutlich, dass den Risiken der Zukunft, ob Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, das Versagen von Staaten oder gar eine Kombination aus all diesen Faktoren, kaum mit ausschließlich militärischen Mitteln begegnet werden kann. Klimaerwärmung und Organisierte Kriminalität werden als Risiken betrachtet. Das Papier nennt drei vorrangige Ziele für die Außenpolitik der EU: Erstens müsse Brüssel an Stabilität und funktionsfähigen Regierungen in Europas Nachbarschaft einschließlich des Kaukasus, des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas interessiert sein. Zweitens sei Europa an einer Weltordnung interessiert, die auf einem funktionsfähigen, effektiven Multilateralismus beruhe, also auf einer Stärkung der multilateralen Institutionen. Und drittens müsse Europa sich mit den bestehenden "alten" wie neuen Risiken befassen.

Schwächen zeigt Solanas Papier, wenn es darum geht, aus richtigen Erkenntnissen die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Zwar erkennt der EU-Beauftragte an, dass viele der neuen Risiken nicht allein mit militärischen Mitteln angegangen werden können, dass erfolgreichen militärischen Interventionen selten ein erfolgreicher Wiederaufbau folgte und dass ein Zusammenwirken verschiedener sicherheitspolitischer Wirkungsinstrumente erforderlich ist. Zitat: "Diplomatie, Entwicklungspolitik, Handel und Umweltpolitik sollten derselben Tagesordnung folgen. In einer Krise gibt es keinen Ersatz für die Einheitlichkeit der Befehls- und Kommandogewalt." Aber sie verzichten darauf, aufzuzeigen, wie die Integration der verschiedenen Wirkungsinstrumente zu einer Sicherheitspolitik aus einem Guss angegangen werden könnte und welche Notwendigkeiten für veränderte Entscheidungsstrukturen und welche neuen Ressourcenverteilung daraus folgen müssten. Deshalb stehen Forderungen nach einer Verbesserung der zivilen und militärischen Krisenmanagement-Fähigkeiten der EU kommentarlos aber auch fast ohne Zusammenhang nebeneinander.

Seltsam allgemein oder gar traditionell bleibt das Papier vor allem, wenn es um die künftige militärische Rolle der EU geht. Es stellt fest, angesichts der neuen Risiken liege die erste Verteidigungslinie immer häufiger im Ausland. Gefordert wird eine strategische Kultur für frühzeitige, schnelle und wenn nötig robuste Interventionen. Damit steht es im Einklang mit den jüngst verabschiedeten "Grundprinzipien für eine EU-Strategie gegen die Proliferation von Massenvernichtungswaffen", in denen ebenfalls militärische Interventionen als letztes Mittel offen gehalten werden. Solanas Papier fordert mehr Ressourcen für militärische Aufgaben. Aber eine erkennbare, klare Konzeption für Voraussetzungen, Ziel, Art und Charakter militärischer Interventionen fehlt. Da wundert es nicht, dass manch wichtiges Thema derzeit noch ausgeblendet wird. Zum Beispiel die Frage nach dem künftigen Verhältnis von innerer und äußerer Sicherheit. Oder die Frage nach den Kriterien, die angelegt werden sollten, wenn über ein militärisches Engagement der EU entschieden werden muss. Soll dies entlang des kleinsten gemeinsamen Nenners nationaler Interessenslagen geschehen? Oder entwickelt die Europäische Union bindende Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, wenn ein militärisches Eingreifen erwogen werden soll? Sind beispielsweise ein UN-Mandat oder klare militärische Zielvorgaben zwingend? Bedarf es klarer Vorgaben für eine Exit-Strategie? Also einen Abbruch der Mission, wenn diese sich als undurchführbar erweist? Sollen präventive oder präemptive militärische Schläge zulässig oder unzulässig sein?

Und doch: Gemessen an der Größe der Aufgabenstellung ist das Zwischenergebnis, das in Thessaloniki präsentiert wurde vor allem eines: entwicklungsfähig. Niemand durfte erwarten, dass es der EU und ihren Mitgliedstaaten aus dem Stand gelingen könnte, in wenigen Wochen ein perfektes, stimmiges Gegenstück zur Nationalen Sicherheitsstrategie der USA zu entwickeln. Um dieses Dokument zu schreiben, benötigte Condoleezza Rice rund 20 Monate. Und einfach abschreiben? Das kann weder sinnvoll noch politisch gewollt sein. Dafür sind die Akteure USA und EU zu verschieden. Dafür sind auch die Instrumente, derer sie sich bedienen können, um Sicherheit zu schaffen und Weltordnung zu gestalten, zu unterschiedlich und zu unterschiedlich stark ausgeprägt. Hier die USA als einheitlicher Akteur, der auf militärische Stärke und Überlegenheit setzt. Da die Europäische Union, heute 15, morgen 25 Staaten, die sich auf gemeinsame Zielsetzungen und die Wege zu deren Umsetzung erst einigen müssen. Eine Europäische Union, deren eigentliche Stärke in der Vielfalt ihrer nichtmilitärischen Instrumente besteht, deren militärische Abstützung aber erst langsam aufwächst.

Europa, die Europäische Union, braucht ihre ureigene, an den eigenen Stärken und Fähigkeiten orientierte Sicherheitsstrategie. Diese darf nicht in den Fehler verfallen, die Politikansätze Washingtons zu kopieren. Sie muss asymmetrisch auf die Fähigkeiten und Stärken Europas ausgerichtet sein, will man ein wichtiger Partner der USA bleiben. Sonst würde Europa Stand- und Spielbein verwechseln.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).