Taktische Atomwaffen als Weiterentwicklung der Artillerie?
Die nukleare Teilhabe der Bundeswehr
von Otfried Nassauer
Im März 1955 brachten die US-Streitkräfte ihre ersten atomaren Fliegerbomben in die
Bundesrepublik. Einen Monat später folgten Sprengköpfe für atomare Marschflugkörper
vom Typ Matador und Artilleriegranaten mit einem Kaliber von 280 Millimeter. Wiederum
einen Monat später, im Mai 1955, wurden die ersten atomaren Kurzstreckenraketen vom Typ
Honest John stationiert. Bald darauf folgten Corporal-Raketen, 203 Millimeter
Artilleriegeschosse und atomare Landminen. Zu Beginn des Jahres 1960 lagerten in
Deutschland bereits 10 unterschiedliche Typen von Atomwaffen aus den USA. Jede einzelne
dieser Waffen besaß eine größere maximale Sprengkraft als jene Waffe, die Hiroshima
zerstört hatte.
So begann eine gigantische atomare Aufrüstungswelle, zu deren
Höhepunkt etwa 7.300 US-Atomwaffen in Europa lagerten. Tausende von Atomsprengköpfen aus
den USA, Großbritannien und Frankreich waren in mehr als 100 Depots in Westdeutschland
untergebracht und die Sowjetunion verwandelte die damalige DDR in ihr größtes atomares
Auslandsdepot.
Die Stationierung atomarer Waffen in der Bundesrepublik erfolgte zwei
Monate vor dem deutschen NATO-Beitritt und noch vor der Aufhebung des Besatzungsstatus.
Sie schuf Tatsachen im Rahmen einer von den USA, Großbritannien und Frankreich
entwickelten NATO-Strategie, die die Bundesrepublik als Neu-Mitglied akzeptieren musste.
Diese Strategie war einerseits das Ergebnis der Tatsache, dass es der NATO nicht
wie seit 1950 geplant gelungen war, für einen Angriff aus dem Osten binnen 90
Tagen 96 Divisionen bereitzustellen. Und sie war andererseits das Ergebnis des Glaubens an
die Drohung mit der Einsetzbarkeit atomarer Waffen. So hieß es damals wörtlich:
"Die Überlegenheit bei atomaren Waffen und der Fähigkeit, sie einzusetzen, wird in
der vorhersehbaren Zukunft der wichtigste Faktor in einem größeren Krieg sein." Die
NATO müsse vorbereitet sein, einen größeren konventionellen Angriff durch den massiven
Einsatz taktischer und strategischer nuklearer Waffen abzuwehren - massive Vergeltung
nannte man das.
Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr von der Existenz dieser Waffen erst
zwei Jahre später. Am 15. März 1957 gaben die US-Streitkräfte erstmals bekannt, dass
sie in Westdeutschland bereits Atomwaffen lagerten. Nur fünf Tage später kündigte der
damalige NATO-Oberbefehlshaber, General Norstadt, an, dass die atomaren Waffen im
Kriegsfall auch den Verbündeten, also zum Beispiel der Bundeswehr übergeben würden.
Deren Streitkräfte waren mittlerweile still und heimlich mit atomaren Trägersystemen
ausgestattet worden. Ähnlich wie die Wiederbewaffnung löste dieses Vorhaben massive
Proteste in der deutschen Öffentlichkeit aus die Bewegung "Kampf dem
Atomtod". Bundeskanzler Adenauer befürwortete die Ausrüstung der grade erst
gegründeten Bundeswehr mit atomaren Trägersystemen und goss (unbeabsichtigt) Öl ins
Feuer: "Unterscheiden Sie doch die taktischen und die großen atomaren Waffen",
sagte er am 5.April 1957. "Die taktischen Waffen sind nichts weiter als eine
Weiterentwicklung der Artillerie. Selbstverständlich können wir nicht darauf verzichten,
dass unsere Truppen auch in der normalen Bewaffnung die neuste Entwicklung
mitmachen." Soweit Adenauer.
Schon nach wenigen Jahren verfügte auch die Bundeswehr über eine
Vielzahl nuklearer Einsatzmittel. Pioniere übten den Einsatz atomarer Landminen,
Artilleristen den von Atomgranaten, Raketenkräfte das Verschießen atomarer Kurz- und
Mittelstreckenraketen und Starfighterpiloten den Abwurf gleich drei verschiedener Typen
atomarer Bomben mit bis zu 1,1 Megatonnen Sprengkraft. Selbst die Luftabwehr erhielt eine
atomare Komponente: Es gab atomare Sprengköpfe für die Nike Herkules Raketen.
Bereits 1962, den Mauerbau in Berlin und die Kuba-Krise in frischer
Erinnerung, schwante Robert McNamara, damals US-Verteidigungsminister, dass der nukleare
Wildwuchs und die Abstützung der NATO-Strategie auf Atomwaffen begrenzt werden müsse.
Mit der Initiative für eine neue Strategie der flexiblen oder wie er selbst sagte der
kontrollierten Antwort, versuchte er im April 1962 das Blatt zu wenden. Doch es dauerte
bis 1968, bevor die neue Strategie den NATO-Rat passiert hatte. Frankreich verließ
darüber 1966 die militärische Integration der NATO. Weitere Komplikationen gab es, weil
die Strategie-Diskussion in der NATO mit der Schlussphase der Verhandlungen über den
Atomwaffensperrvertrag zusammenfiel, einem weiteren, äußerst heißen Eisen für die
Allianz.
Der Atomwaffensperrvertrag würde, das war klar, die NATO-Staaten wohl
in zwei Gruppen aufteilen: Jene, die über Atomwaffen verfügen durften und jene, die als
nicht-nukleare Mitglieder beitreten würden. Zugleich aber sollten und wollten die
nichtnuklearen NATO-Staaten auch künftig an der Umsetzung der Nuklearstrategie der NATO
beteiligt bleiben und im Blick auf die Nuklearstrategie des Bündnisses mitreden können
sonst hätte die Gefahr bestanden, dass einige lieber selbst Atommacht würden.
Eine kaum lösbare Aufgabe, der sich die NATO-Mitglieder mit allerlei fragwürdigen Tricks
und einem Ergebnis stellten, das als nukleare Teilhabe bekannt wurde: Ohne, dass dies
allen anderen Vertragsunterzeichnern klar gewesen wäre, erklärten die NATO-Staaten ihre
bisherige Praxis auch künftig für legal: Atomare Trägersysteme nicht-nuklearer Staaten
dürften im Kriegsfall genutzt werden, um US-Atomwaffen zum Einsatz zu bringen, denn im
Kriegsfall gelte der neue Vertrag nicht mehr. Die politische Mitsprache der nicht-atomaren
NATO-Staaten wurde durch Einrichtung eines neuen NATO-Gremiums, der Nuklearen
Planungsgruppe, abgesichert.
McNamaras Absicht, den nuklearen Wildwuchs in Europa zu
begrenzen, zeigte zunächst weniger Wirkung. Die Zahl der Atomwaffen in Europa stieg bis
in die 70er Jahre weiter an. Nun mussten ja Waffen aufgestellt werden, die technisch
geeignet waren, die neue Strategie umzusetzen. Erst aufgrund von Sicherheitsbedenken Mitte
der 70er und im Rahmen der Diskussionen über Neutronenwaffe und Nachrüstung kam es zu
ersten Reduzierungsschritten. Eine substantielle Reduzierung der Zahl atomarer Waffen in
Europa erfolgte erst gegen und unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges. Mit dem Auslaufen
des Waffensystems Nike, der Eliminierung aller Heeresatomwaffen und dem Verzicht auf 50
Prozent aller atomaren Bomben bis 1991/92 sank die Zahl der Atomwaffen in Europa auf rund
700, kurz darauf 1994/95 auf 480.
Und heute? 15 Jahre nach Ende des Kalten Krieges, bestehen die
nuklearen Strukturen der NATO weiter fort weitgehend unverändert. Noch Ende 2000
autorisierte US-Präsident Bill Clinton erneut die Stationierung von 480 nuklearen
Fliegerbomben in Europa. 150 dieser Waffen sollen auf dem US-Luftwaffenstützpunkt
Ramstein lagern, 20 auf dem Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel in der Eifel. Die US-Waffen
sind weiter im Rahmen der nuklearen Teilhabe auch für den Einsatz durch die
Luftstreitkräfte der nicht-nuklearen NATO-Länder Deutschland, Belgien, Holland, Italien
und Türkei vorgesehen.
Militärisch hat sich die Fähigkeit der Bundeswehr, Atomwaffen mit
eigenen Trägersystemen einzusetzen, zwar längst zu einem Anachronismus entwickelt. Es
gibt schlicht keinen Bedarf mehr. Das dürfte auch die Bundeswehr so sehen - nur sagt sie
es nicht offen. Denn politisch lautet die Befürchtung, man spiele Mikado: Wer zuerst am
Sinn der atomaren Waffen in Europa zweifle, sich in dieser Frage bewege, der habe
verloren, weil er die transatlantische Nuklearsolidarität in Frage stelle. Da nimmt man
lieber in Kauf, dass die Mehrheit der Mitglieder des Atomwaffensperrvertrages mittlerweile
an der Rechtmäßigkeit der nuklearen Teilhabe zweifelt ein Vorwurf, der auch
während der Überprüfungskonferenz des Vertrages im Mai dieses Jahres zum wiederholten
Male laut werden dürfte. Und doch: Die Entwicklungsrichtung scheint klar: Die Luftwaffe
plant, ihre nuklearfähigen Tornado-Flugzeuge im nächsten Jahrzehnt durch nichtnukleare
Jets vom Typ Eurofighter abzulösen. Es gibt keine Absicht, den Eurofighter nuklearfähig
zu machen, so Staatssekretär Walter Kolbow im Juli 2004 im Bundestag.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit – BITS
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