Streitkräfte und Strategien
24. Februar 2001

 

Europa und NMD

Otfried Nassauer

Seit vier Wochen ist die neue US-Administration im Amt. Sie hat deutlich gemacht, daß das Vorhaben einer Nationalen Raketenabwehr, NMD, zu ihren wichtigsten Prioritäten gehört. Unklar ist derzeit, wie ihre Pläne konkret aussehen und wann diese umgesetzt werden sollen. Dies ist Gegenstand umfangreicher Prüfungen, die das Pentagon durchführt. Trotzdem wirft das Vorhaben schon heute seine Schatten voraus und dominiert große Teile der sicherheitspolitischen Diskussion.

Die zumeist sozialdemokratisch geführten europäischen Regierungen stehen dem amerikanischen Vorhaben einer strategischen Raketenverteidigung eher skeptisch gegenüber. Sie halten die Bedrohung kurz- und mittelfristig für deutlich geringer als die USA. Sie befürchten, daß China aber auch Rußland wegen des Vorhabens künftig eher auf- als abrüsten werden. Mehr noch, sie sehen die Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs - global und vor allem im Blick auf Asien. Und sie fürchten negative Auswirkungen auf Abrüstung und Nichtverbreitungsregime insgesamt.

Diese Kritiken werden vorgetragen, manchmal lauter, manchmal leise - jedoch: Sie stehen fast immer unter einem Vorbehalt. Letztlich, so ist in London, Berlin und anderen europäischen Hauptstädten immer wieder zu hören, sei dies eine nationale amerikanische Entscheidung. Europa könne seine Bedenken zwar geltend machen, die Entscheidung aber nicht wirklich beeinflussen. Für die neue Regierung in  Washington stehe praktisch bereits fest: Die nationale Raketenabwehr kommt. Die Frage sei nur, wann und wie. Damit müsse auch Europa leben.

Die gegenwärtige Reisediplomatie  trägt symptomatische Züge. Bereits vor dem Washington-Besuch von Tony Blair berichteten britische Zeitungen, er werde dem neuen US-Präsidenten zusagen,  Großbritannien werde den Bau wichtiger Anlagen für die amerikanische Raketenverteidigung auf britischem Territorium nicht blockieren. Außenminister Joschka Fischer reiste zunächst nach Moskau und machte dann in  Washington Station. Aus Moskau meldeten konservative Zeitungen: Fischer sehe Rußland kompromißbereit. Moskau werde letztlich einlenken, den Widerstand gegen die amerikanischen Pläne aufgeben. In Washington selbst  war von Fischer auf der Pressekonferenz nach dem Gespräch mit US-Außenminister Colin Powell nichts von  rüstungspolitischen Bedenken gegen NMD zu hören. Stattdessen war  von Konsultationen in dieser Frage die Rede. [Kein Wunder: Denn man wisse - so der diplomatisch gestreute Tenor - , daß sich die amerikanische Regierung bereits entschieden habe. Es werde  nicht zum Konflikt zwischen den Bündnispartnern kommen.]

Klammheimliche Freude kommt angesichts dieser Entwicklungen vor allem bei den oppositionellen, konservativen Volksparteien auf. Die britischen Konservativen hatten schon vor Wochen nichts eiligeres zu tun, als dem neuen US-Präsidenten George W. Bush ihre volle Unterstützung für seine Pläne zuzusichern. Deutsche Konservative, wie der CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz, bliesen während der Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik Anfang des Monats ins gleiche Horn. Jüngst freute sich sogar der sonst eher nachdenkliche CDU-Abgeordnete Friedbert Pflüger: Zitat:  "Die SPD weiß: Immer, wenn die Nähe Deutschlands zu den USA in Zweifel gerät, dann gewinnen wir."

Kurzsichtiger kann die Debatte um die amerikanischen Pläne kaum geführt werden. Das gilt für beide, konservative Opposition und rot-grüne Regierung. Und für den Verzicht auf die Suche nach einer europäischen Position zu diesem Vorhaben gilt es allemal. Die Diskussion um das Vorhaben greift viel zu kurz.

Das entscheidend  Neue an der künftigen Politik der Bush-Administration ist, dass die Diskussion über NMD lediglich der Türöffner für etwas anderes ist: Die Vordenker der Regierung Bush wollen mehr als den Einstieg in den Bau eines nationalen Raketenabwehrsystems. Sie wollen eine grundsätzliche Debatte über das bisherige Konzept der nuklearen Abschreckung und eine Neubestimmung der Funktion und Rolle vertraglicher Rüstungskontrolle.

Abschreckung soll nicht länger darauf aufbauen, daß die Nuklearmächte um ihre "gegenseitige Verwundbarkeit" wissen und sich gegenseitig gesichert zerstören können. Abschreckung soll künftig darauf beruhen, daß Gegner gesichert angegriffen werden können. Zugleich soll jedermann das Recht haben, sich so gut zu verteidigen wie er kann. Kann er es nicht, so ist das sein Problem. Als wirksames Werbeargument ist zu erwarten: Je mehr defensive Kapazitäten wir haben dürfen, desto leichter können wir unsere offensiven nuklearen Fähigkeiten reduzieren.

Ähnlich ist das Herangehen an die Zukunft der Rüstungskontrolle: Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsverträge sollen künftig eher eine Ausnahme sein, bilateral und multilateral. Das schließt Abrüstung nicht aus. Diese kann - wie schon unter der Regierung Bush-Senior - auch durch einseitige Schritte vollzogen werden. Der Vorteil aus Sicht der neuen US-Regierung: Überflüssige Waffen können abgebaut werden. Paßt aber eine Rüstungskontrollmaßnahme später politisch nicht mehr in die eigene Planung oder ändern sich Bedrohungseinschätzung und Interessenslage - so ist eine Wiederaufrüstung jederzeit möglich. Ohne, daß ein unschöner Vertragsbruch notwendig wäre. Zu erwarten ist, daß die Regierung Bush schon in wenigen Monaten ihre Bereitschaft zu einseitigen nuklearen Abrüstungsschritten unter Beweis stellen wird. Sie könnte dabei über die bisherigen Abrüstungsziele des START-Prozesses deutlich hinausgehen. Nur  - vertraglich binden wird sie sich kaum.

Damit werden die internationale Gemeinschaft und auch die europäischen Verbündeten von der Bush-Administration vor Probleme gestellt, die viel grundlegender sind als es zunächst erscheint: Es geht beileibe nicht nur um die Frage, ob die USA eine nationale Raketenverteidigung bauen und deshalb den ABM-Vertrag aufkündigen. Es geht nicht nur darum, ob mit Rußland eine Kompromißformel gefunden werden kann, die den ABM-Vertrag formal erhält und den USA trotzdem den Bau einer Raketenabwehr ermöglicht. Es geht um Annahmen und Prämissen der Sicherheits-, Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungspolitik, die in den vergangenen Jahrzehnten gültig waren. Sie werden infragegestellt: Sicherheit wird im Konzept der neuen US-Administration einseitig bestimmt, fußt auf den Möglichkeiten der eigenen wirtschaftlichen und militärischen Stärke, dem Bewußtsein, einzige Supermacht zu sein. Sicherheit ist nicht länger immer auch die Sicherheit des anderen. Dieses Verständnis muß auf Dauer die in den vergangenen Jahrzehnten geschaffenen Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungsregime unterminieren. Es schwächt Bemühungen, Stabilität und Sicherheit in den internationalen Beziehungen durch Verrechtlichung, also durch Verträge  zu erreichen.

Während zunächst scheinbar vor allem die bilateralen russisch-amerikanischen Rüstungskontrollverträge von diesem Neuansatz betroffen sind, besteht zugleich die Gefahr, daß multilaterale Regime geschwächt werden, die die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verhindern sollen. Dies aber würde gerade jene Gefahren verstärken, vor denen das geplante Raketenabwehrsystem die USA und vielleicht auch deren Verbündete schützen soll.

Eine gemeinsame europäische Position zu diesen Grundsatzfragen im Rahmen der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik  wurde nicht erarbeitet. Das Thema "Raketenabwehr" sei Verteidigungspolitik und gehöre in die NATO, nicht aber in die EU, so ist zu vernehmen. Nein, weder der Bundesrepublik, noch der EU stehe es zu, angesichts der amerikanisch-russischen Widersprüche eine Vermittlerrolle einzunehmen, verlautet von Außenminister Joschka Fischer. Einen Kompromiß auszuarbeiten, das sei die Aufgabe Rußlands und der USA.

Diese Haltung muß - gerade angesichts der weitreichenden Konsequenzen der amerikanischen Pläne für Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung verwundern. Im Rahmen ihrer Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik formuliert die Europäische Union seit Jahren gemeinsame Positionen in beiden Bereichen. Sie betonte dabei immer wieder, daß die Stärkung der Nichtverbreitung Vorrang haben müsse. Wann also, wenn nicht jetzt wäre es an der Zeit für eine gemeinsame europäische Haltung, die die Konsequenzen der amerikanischen Planungen durchleuchtet und praktikable Alternativen zur Stärkung von Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung aufzeigt?

Doch die europäischen Reaktionen auf NMD scheinen vorrangig von den vermuteten Auswirkungen der nationalen Haltungen auf das jeweilige bilaterale Verhältnis zu Washington beeinflußt zu sein. Das heißt taktische Vorteilssuche beim großen Bruder, der eine strategische Debatte eröffnet hat. Dieses Vorgehen kann sich schnell rächen - dann nämlich, wenn Europa von seinem transatlantischen Partner in einer anderen strategischen Debatte ernstgenommen werden möchte: Bei der Diskussion um das militärische Krisenmanagement der EU.

 

arbeitet als freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).