23. September 2000
Streitkräfte und Strategien, NDR info

 

Ratlos - Rußland auf der Suche nach einer realistischen Außen- und Sicherheitspolitik

 von Otfried Nassauer  

Im ersten Amtsjahr pflegt – so die Erfahrung – ein russischer Präsident seine politischen Forderungen in Strategie- und Doktrindokumenten darzustellen und der Administration damit die politischen Ziele und die einzuschlagenden Wege vorzugeben. So tat es auch Wladimir Putin. In beeindruckend schneller Folge erließ er per Dekret: Im Januar: Die Konzeption der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation. Im März: Die Grundlagen der Politik der Russischen Föderation auf dem Gebiet der militärisch-maritimen Tätigkeit für den Zeitraum bis 2010. Im April: Die Militärdoktrin der Russischen Föderation und im Juni: Die Konzeption "Außenpolitik der Russischen Föderation".

Alle diese Papiere wurden mit dem Anspruch verfasst und veröffentlicht, langfristige Leitlinien für die Gestaltung der russischen Politik zu beschreiben. Doch der Wechsel der Personen, vom kränkelnden Boris Jelzin zum tatkräftig erscheinenden Wladimir Putin, kann weder die grundlegenden Probleme der russischen Streitkräfte noch die widersprüchlichen Vorstellungen über deren Zukunft auflösen. Zwei sehr unterschiedliche Ereignisse machten das während der Sommermonate deutlich. Zum einen der heftige Streit zwischen Verteidigungsminister Igor Sergejew und Generalstabschef Anatoli Kwaschnin über die künftige Ausrichtung des Militärs. Und der Untergang des russischen Atom-U-Bootes KURSK.

Zunächst ein Blick auf die U-Boot-Katastrophe: Sie hinterlässt bis heute mehr Fragen als Antworten. Was hat die Katastrophe verursacht, wodurch wurde die KURSK versenkt? Warum wurde Hilfe so spät angenommen? Warum gab es so viele widersprüchliche Informationen? Waren sie lediglich Auswirkung der chaotischen Rettungsversuche auf die Pressearbeit oder dokumentieren sie die Rückkehr zur Geheimniskrämerei sowjetischer Zeiten? War gezielte Desinformation im Spiel, der Versuch, Fehler zu vertuschen, weil es hinter den Kulissen einen Machtkampf gibt?

Nun, es gibt jedoch nicht nur offene Fragen, sondern es wurde auch manches klarer. Zum Beispiel die katastrophale Lage des Militärs. Selbst in den Eliteteilen der russischen Streitkräfte fehlt es am Notwendigsten. Nicht einmal die Atomflotte, finanziell vergleichsweise gehätschelt, ist von Einsparungen verschont geblieben. Sie sind so gravierend, dass Sicherheit und Einsatzfähigkeit gefährdet werden. Noch schlimmer steht es um andere Bereiche der Marine. Das Fehlen von Tiefseetauchern, 1995 aus Kostengründen abgeschafft und von einsatzfähigem, modernem Rettungsgerät machten deren desolaten Zustand weltweit deutlich. Ganz zu schweigen von den Zuständen im russischen Heer, die in Tschetschenien täglich sichtbar werden. Pflegen westliche Generäle mit der mangelnden Einsatzfähigkeit ihrer Truppen theatralisch zu drohen, wenn sie von der Politik mehr Geld wollen, so ist die Realität in Russland eine andere: Die Armee ist im Zerfall begriffen, in vielen Konflikten und zu komplexen Operationen längst nicht mehr einsetzbar.

Seit dem Ende der Sowjetunion leben die russischen Streitkräfte von der Substanz. Der Verteidigungshaushalt ist zwar zum Sterben zu groß, zum Überleben aber reicht er auch nicht. Und Abhilfe ist nicht in Sicht. Der Etat für 2001 sieht offiziell Ausgaben in Rekordhöhe vor: etwa 14 Milliarden DM. Auch wenn aus anderen Etats dem Militär noch etwas zugute kommt: diese Zahl lässt erahnen, wie groß das Dilemma sein muss. Mit weniger als einem Drittel der Mittel, die für die Bundeswehr vorgesehen sind, will Russland 1,2 Millionen Soldaten und dazu eine kostspielige Nuklearstreitmacht unterhalten. Abgeordnete drängen zwar darauf, den Ansatz deutlich zu erhöhen, aber der Spielraum ist begrenzt. Das zeigt ein anderer Vergleich. Mit umgerechnet 88 Milliarden DM ist der gesamte Staatshaushalt Russlands deutlich kleiner als die jährlichen Transferzahlungen aus den alten Bundesländern an die neuen. Übrigens: Die USA wollen mehr als 600 Milliarden DM allein für Verteidigung ausgeben.

Dennoch spielt die russische Führung gegenüber ihrer Öffentlichkeit auf Stärke. Boris Jelzin pflegte zum Beispiel zu betonen, dass Russland atomare Weltmacht sei und bleibe. Und als wolle er seiner Ansicht mit einer tapsigen Handbewegung Nachdruck verleihen, scheute er sich nicht, gelegentlich gleich mit dem Einsatz der russischen Atomwaffen zu drohen. Auch Putin bediente sich dieser Symbolik. Er übernachtete auf einem Atom-U-Boot, flog im Kampfjet nach Tschetschenien und ließ seine Wahl von der Marine mit dem Abschuss von Langstreckenraketen feiern.

Die auf die Innenpolitik zielende Symbolik der militärischen Stärke und die Realität der russischen Streitkräfte haben aber schon länger nichts mehr miteinander gemein. Das ist der politischen Führung und sicherlich auch einem Teil der Generalität bewusst. Der Streit, wie mit dieser Wirklichkeit umgegangen werden soll und welche Konsequenzen gezogen werden müssen, ist Folge dieser Erkenntnis.

So machte Anatoli Kwaschnin, der russische Generalstabschef, Mitte Juli einen unerhörten Vorschlag. Russland, so der General, müsse die Zahl seiner landgestützten, atomaren Interkontinentalraketen schnell und drastisch reduzieren. Die Raketentruppen sollten ihre Eigenständigkeit verlieren, gar der Luftwaffe unterstellt werden. Der Vorschlag, in einer weniger radikalen Variante auch an Präsident Putin übermittelt, zielte darauf, die Dominanz der Nuklearstreitkräfte zu brechen und die knappen Mittel von den Nuklearwaffen in die Finanzierung konventioneller Streitkräfte umzulenken.

Der Widerstand folgte prompt. Verteidigungsminister Sergejew - selbst einmal Chef der Raketentruppen – hatte nämlich ganz andere Pläne. Für ihn – wie für weite Teile der sicherheitspolitischen Elite Russlands – sind die strategischen Nuklearstreitkräfte und vor allem die strategischen Raketentruppen die letzte Garantie dafür, dass Moskau auch künftig in der Weltpolitik Gehör findet und seine vitalen Interessen einbringen kann. Ihnen kommt deshalb Vorrang zu. Die Rolle der Raketentruppen würde darum – ginge es nach Sergejew – sogar gestärkt werden, indem ihnen auch die atomaren Anteile von Luftwaffe und Marine unterstellt werden sollen.

Hinter dieser Auseinandersetzung der Generäle steckte mehr als ein Streit um Geld oder als die übliche Konkurrenz der Teilstreitkräfte. Russlands knappe Ressourcen zwingen vielmehr zu einer Grundsatzentscheidung über die sicherheitspolitischen Prioritäten. Über die Frage, ob die nukleare, strategische Parität mit den USA Vorrang hat. Oder ob die konventionellen Streitkräfte bevorzugt werden müssen, um die territoriale Integrität der Russischen Föderation gegen Sezessionsbestrebungen wie in Tschetschenien zu schützen.

Tatsächlich hat die Aufrechterhaltung der Russischen Föderation, ihr Schutz vor weiterem Zerfall an Bedeutung gewonnen. Als Präsident Putin im Januar per Erlass die neue "Konzeption der Nationalen Sicherheit der Russischen Föderation" und im April die neue "Militärdoktrin" in Kraft setzte, war diese Verschiebung der Aufgaben das entscheidend Neue: Die Bedeutung der Streitkräfte bei der Sicherung der Russischen Föderation.

Eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am 11. August, einen Tag vor dem Untergang der KURSK, brachte zwar keine endgültige Grundsatzentscheidung. Gleichwohl ergab sie eine Tendenz. Beschlossen wurde den Berichten zufolge, dass bis zum Jahr 2003 sowohl die russischen Streitkräfte um 350.000 Soldaten verkleinert als auch die Zahl der strategischen Nuklearraketen deutlich reduziert werden. Weiterhin wurde verfügt, dass die Strategischen Streitkräfte Teile ihrer Zuständigkeit abgeben und ihre Eigenständigkeit bis zum Jahre 2006 ganz verlieren sollen.

Diese Beschlüsse machen die Zukunftsplanung des russischen Militärs aber noch nicht realistisch, solange weiterhin das notwendige Geld fehlt. Russland wird unter Präsident Putin kaum umhin können, sein Militär noch drastischer zu reformieren und das heißt: zu reduzieren. Geschieht das nicht, so wird die Militärdoktrin des neuen Präsidenten dasselbe Schicksal erleiden, wie die seines Vorgängers Boris Jelzin. Als sich erwies, dass Jelzins Doktrin nicht umsetzbar war, wurde sie Jahre nach ihrem Inkrafttreten einfach wieder zum Entwurf erklärt.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).