Streitkräfte und Strategien - NDR info
19. Mai 2012


Taktische Atomwaffen, kein Auslaufmodell?
Das Bündnis und die Abrüstung

von Otfried Nassauer

In Chicago geht es an diesem Wochenende auch um die Rolle des Abschreckungs- und Verteidigungspotenzials der Allianz. Insbesondere Außenminister Westerwelle fordert ein abrüstungspolitisches Signal. Der FDP-Politiker setzt sich schon seit langem für eine Reduzierung der rund 200 taktischen US-Atomwaffen in Europa ein. Doch das Dokument, das auf dem Gipfel verab-schiedet werden soll, wird dem Abrüstungsprozess vermutlich keine Impulse geben.

Das Papier für den Gipfel haben die Außen- und Verteidigungsminister der Allianz bereits auf ihrem Jumbo-Treffen im April in Brüssel gebilligt. Das Ergebnis ist ernüchternd. Das Dokument verzichtet auf konkrete Aussagen zur künftigen Rolle taktischer Atomwaffen in Europa. Es geht vielmehr davon aus, dass die NATO an diesen Systemen vorerst festhalten wird. Die Möglichkeit eines zukünftigen Abzugs wird nicht einmal erwähnt. Im Gegenteil: Die NATO stellt fest, dass das - Zitat - „nukleare Streitkräftepotential der Allianz gegenwärtig die Kriterien einer effektiven Abschreckung und eines effektiven Verteidigungsdispositivs erfüllt“. Sie werde ein nukleares Bündnis bleiben, solange Nuklearwaffen existieren. Allerdings heißt es in diesem Papier mit dem Namen Deterrence and Defence Posture Review auch, die NATO sei bereit, zu prüfen, ob sie - so wörtlich -

Zitat
„das Erfordernis nicht-strategischer Nuklearwaffen, die dem Bündnis assigniert sind, im Kontext reziproker Schritte Russlands und angesichts der größeren Lagerbestände nicht-strategischer Nuklearwaffen Russlands in der Euro-Atlan-tischen Region weiter reduzieren kann“.

Nur wenn Moskau der NATO entgegenkommt, soll es ggf. zu einer Reduzierung der Zahl und der Rolle der Atomwaffen der NATO kommen. Was das konkret heißen könnte, lässt die NATO noch offen. Sie will ihre zuständigen Gremien nach dem Gipfel beauftragen, entsprechende Ideen zu entwickeln.

Im Klartext: Die Allianz muss sich erst noch ausdenken, was sie von Moskau fordern könnte, um die Rolle und die Zahl nuklearer Waffen in Europa zu reduzieren. Weil die NATO-Mitglieder sich über die Zukunft der Atomwaffen in Europa nicht einigen können, machen sie weitere Abrüstungsschritte von einem Entgegenkommen Moskaus abhängig.

Für einen anderen Prozess scheint dagegen kein Konsens im Bündnis erforderlich zu sein: Die Vorbereitungen für eine Modernisierung der US-Nuklearwaffen in Europa laufen weiter. In den USA wurde Ende letzten Jahres beschlossen, mit der Entwicklung einer neuen Version der in Europa lagernden Atombomben zu beginnen. Beteiligte Wissenschaftler bezeichnen das Entwicklungsvorhaben als das umfassendste seit mehr als 30 Jahren. Die Kosten: Rund sieben Milliarden Dollar. US-Regierungsvertreter begründeten die Eilbedürftigkeit mit der Notwendigkeit, die neue Waffe rechtzeitig für die NATO bereitzustellen.

Die SPD-Abrüstungsexpertin Uta Zapf sieht diese Entscheidung kritisch:

O-Ton Zapf
„Wenn die USA tatsächlich die taktischen Nuklearwaffen modernisieren, wird das Ergebnis eine völlig neue Waffe sein: präziser, treffgenauer, flexibler und je nach Trägermittel von größerer Reichweite [...] Diese Maßnahme steht ebenso im Widerspruch zur Absicht, die Rolle von Nuklearwaffen herabzustufen. Sie führt zu ‚saubereren‘ einsetzbaren und präziseren Waffen mit strategischem Charakter. Sollen diese Waffen wirklich ab 2019 in Deutschland stationiert werden?“

In der Tat: Das Vorgehen der Allianz erinnert an den NATO-Doppelbeschluss von 1979. Auch damals kündigte das Bündnis seine Bereitschaft an, auf neue Nuklearwaffen dann zu verzichten, wenn die Sowjetunion ihre Mittelstreckenraketen abrüstet.

Die deutsche Initiative, die restlichen aus dem Kalten Krieg stammenden US-Atomwaffen abzuziehen, verpufft. Die taktische Idee, den Widerstand gegen amerikanische Vorschläge für eine Raketenabwehr in Europa aufzugeben, weil diese die Atomwaffen ja überflüssig machen könnte, erwies sich als kurzsichtig und nicht durchsetzbar. Im Gegenteil: Die NATO betrachtet die Raketenabwehr jetzt als Ergänzung ihrer atomaren Waffen, und nicht als Ersatz.

Für die Bundesregierung bleibt ein Trostpflaster: Nach dem Gipfel in Chicago wird die NATO wieder einen ständigen Ausschuss zu Fragen der Abrüstung, der Rüstungskontrolle und der Nichtverbreitung erhalten. Außenminister Westerwelle sieht dies als seinen Erfolg. Doch gemach: Zuständigkeit und Auftrag dieses Ausschusses sollen ebenfalls erst nach dem Gipfel beschlossen werden. Wenn es um Abrüstung geht, ist und bleibt das Militärbündnis NATO eine Schnecke.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS