Ignoriertes Urteil? Wie die Bundeswehr mit der Leipziger Entscheidung zur
Gewissensfreiheit umgeht
Gastbeitrag von Jürgen Rose
Einem juristischen Paukenschlag gleich kam das Urteil, das der zweite Wehrdienstsenat
am Bundesverwaltungsgericht Leipzig am 22. Juni letzten Jahres verkündet hatte. Denn
immerhin war ein Stabsoffizier der Bundeswehr, Major Florian Pfaff, von einem der
schwerstwiegenden Vorwürfe freigesprochen worden, die gegen einen Soldaten überhaupt
erhoben werden können: dem der Gehorsamsverweigerung. Und mehr noch: Die
Bundesverwaltungsrichter hatten der rot-grünen Bundesregierung wegen der deutschen
Unterstützungsleistungen für den Angriffskrieg der USA gegen den Irak im Jahr 2003 eine
scharfe Rüge erteilt. Denn gegen diese Maßnahmen sprächen, so die höchstrichterliche
Entscheidung, "gravierende völkerrechtliche Bedenken".
Selbst wenn man den geschilderten Sachverhalt lediglich als einen abgehobenen
Einzelfall bewertet, hätte er Anlass sein müssen für eine intensive, wenn nicht
stürmische Debatte in der Bundeswehr. Denn erstens hatten die Richter ihren Freispruch
zentral damit begründet, dass die grundgesetzlich absolut geschützte Freiheit des
Gewissens Vorrang habe gegenüber der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte. Und das
selbst im Verteidigungsfall. Denn "das Grundgesetz normiert eine Bindung der
Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die
Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte". Als wäre dies nicht schon
brisant genug, knüpft das Bundesverwaltungsgericht zweitens die soldatische
Gehorsamspflicht an die Voraussetzung, dass die von den politischen Entscheidungsträgern
erteilten Einsatzaufträge völkerrechtskonform sein müssen. Denn bereits in dem Moment,
wo ein Bundeswehreinsatz völkerrechtlich auch nur umstritten ist, eröffnet sich ein
Freiraum für die individuelle Gewissensentscheidung des betroffenen Soldaten. Auf den
Punkt gebracht lautet der Richterspruch aus Leipzig: Der Primat der Politik gilt nur
innerhalb der Grenzen von Recht und Gesetz jenseits davon herrscht der Primat des
Gewissens!
Aber auch ganz praktische Erwägungen legen die umfassende Information der Soldaten
über den Leipziger Urteilsspruch und dessen gründliche Erörterung dringend nahe. Jene
betreffen in erster Linie die Einsatzverpflichtungen, welche die Bundesrepublik
Deutschland im Rahmen der "NATO Response Force" sowie der "EU Battle
Groups" eingegangen ist. Bei diesen handelt es sich um ständig präsente, innerhalb
von wenigen Tagen weltweit einsetzbare Interventionsstreitkräfte der Nordatlantischen
Allianz und der Europäischen Union. Gemäß den gültigen Einsatzdoktrinen soll zwar
jeweils ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen eingeholt werden, bevor
diese Verbände in den Einsatz gehen. Genau dies verlangt das Völkerrecht auch
ausdrücklich. Sollte der UN-Sicherheitsrat jedoch die Autorisierung militärischer
Gewaltanwendung verweigern so wie in der Vergangenheit bereits mehrfach geschehen
, behalten sich NATO und auch die EU allerdings vor, gegebenenfalls das Völkerrecht
zu ignorieren und eigenmächtig militärisch zu intervenieren.
Exakt in einem solchen Fall aber entfaltet das Leipziger Urteil seine Brisanz. Denn
jeder Bundeswehrsoldat, der als Angehöriger der "NATO Response Force" oder
einer "EU Battle Group" in solch einen völkerrechtlich zweifelhaften
Militäreinsatz befohlen wird und dies mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, darf in
einem solchen Fall den Gehorsam verweigern. Er muss lediglich seinen Gewissenskonflikt
rational nachvollziehbar darlegen und begründen. Die Vorgesetzten des Soldaten sind
zugleich verpflichtet, ihm eine gewissenschonende Handlungsalternative anzubieten.
Überspitzt lässt sich hieraus schlussfolgern, dass die Einsatzbereitschaft der
Interventionstruppen von NATO und Europäischer Union in Zukunft von den möglichen
Gewissenskonflikten der beteiligten deutschen Soldaten abhängen wird. Weitere
Problemfelder ähnlicher Art könnten sich auftun, falls die Anwendung völkerrechtlich
umstrittener Waffen und Munition befohlen wird. An erster Stelle betrifft dies den Einsatz
von Atomwaffen im Rahmen der nuklearen Teilhabe. Aber auch die Verwendung von
Streumunition, Brandwaffen oder Minen zählt dazu. Von besonderer Brisanz wäre mit
Sicherheit auch eine Situation, in der einem Jagdpiloten der Abschuss eines
Zivilflugzeuges gemäß dem Luftsicherheitsgesetz befohlen würde. Denn dieses ist
verfassungsrechtlich sehr umstritten und liegt dem Bundesverfassungsgericht aktuell zur
Prüfung vor.
Ungeachtet solcher Kalamitäten herrscht in der gesamten Bundeswehr ohrenbetäubendes
Schweigen hinsichtlich der Causa Pfaff und ihrer Konsequenzen. Der Sachverhalt soll von
offizieller Seite ganz offenkundig totgeschwiegen, die Truppe uninformiert gehalten
werden. Für diese Feststellung sprechen eine Reihe von Indizien. So liegt bis zum
heutigen Tag keinerlei offizielle Stellungnahme des Verteidigungsministeriums zu dem
Leipziger Urteil und seinen Konsequenzen vor. Auf kritische Nachfrage seitens der Medien
wird regelmäßig darauf verwiesen, dass sich für Kommandeure und Dienststellenleiter
eine "Argumentations- und Entscheidungshilfe" in Erarbeitung befände. Die soll
zum korrekten "Umgang mit Soldaten und Soldatinnen, die aus Gewissensgründen Befehle
nicht befolgen wollen", anleiten. Ansonsten aber wird das Urteil in seiner Bedeutung
heruntergespielt. Nach Auffassung des Verteidigungsministeriums sei nämlich "das
Urteil durch die besonderen Umstände des Einzelfalls bestimmt und entfalte nur zwischen
den Prozessparteien unmittelbare Wirkung". Zudem qualifizieren Hardthöhenadvokaten
den Richterspruch als in entscheidenden Punkten fehlerhaft ab. So würden die Leipziger
Richter unter anderem das "verfassungsrechtlich geschützte Gut der
Funktionsfähigkeit der Streitkräfte negieren". Dieser Vorwurf erweist sich bei
genauer Lektüre der Urteilsbegründung indessen als völlig unhaltbar. Dennoch greift
diese polemische ministerielle Sprachregelung mittlerweile auf unterschwellige Weise im
Kreise der Rechtsberater und militärischen Führungsverantwortlichen um sich.
Gleichzeitig wird der Major Pfaff innerhalb der Bundeswehr de facto mit einem
Auftrittsverbot belegt so geschehen am Zentrum für Innere Führung. Dort hat
unlängst ein Seminar zum Thema "Soldat und Ethik" stattgefunden. Pfaff hatte
angeboten, hierbei über seinen Fall zu informieren und sich kritischen Fragen zu stellen.
Doch dies war nicht gewünscht. Daraufhin hat der Major auch anderen wichtigen
Ausbildungseinrichtungen in den Streitkräften angeboten, über seinen Fall zu informieren
und zu diskutieren. Zu diesen zählen die Bundeswehruniversitäten, die Führungsakademie,
die Offizierschulen von Heer, Luftwaffe und Marine sowie die Akademie für Information und
Kommunikation. Doch überall wurde sein Angebot unter fadenscheinigen Vorwänden
zurückgewiesen. Selbst bei der Militärseelsorge stieß sein Angebot bislang auf taube
Ohren. Auch Initiativen anderer Soldaten, das Thema im Rahmen der Politischen Bildung zu
behandeln, werden von Vorgesetzten abgeblockt, so beispielsweise im Wehrbereichskommando
IV in München. All dies deutet unübersehbar darauf hin, dass ein kritischer Diskurs
über Themen wie die Legitimität von Einsatzaufträgen, die Gewissensfreiheit von
Soldaten oder die Grenzen von Befehl und Gehorsam innerhalb der Bundeswehr mit allen
Mitteln unterbunden werden soll.
Für diesen Umstand spricht auch, dass sich im Intranet der Bundeswehr, wo bis zurück
ins Jahr 2000 jede Kleinigkeit akribisch archiviert ist, zum Pfaff-Urteil nicht ein
einziges Wort findet. Ein anderes Urteil des Leipziger Bundesverwaltungsgerichtes indes
wird in epischer Breite gewürdigt. Das in Sachen Wehrgerechtigkeit vom Januar 2005
nämlich, aber das war auch zugunsten des Verteidigungsministers ausgefallen ein
Schelm, wer Böses dabei denkt.
Angesichts dieser höchst fragwürdigen Informationspolitik kann es nicht überraschen,
wenn aus dem Verteidigungsministerium zur Causa Pfaff lakonisch verlautet: "Nach
derzeitiger Erkenntnis sind durch das Urteil keine negativen Auswirkungen auf die
Einsatzbereitschaft der Truppe zu erwarten." Da kaum ein Bundeswehrsoldat das
Leipziger Urteil überhaupt kennt, steht dies in der Tat nicht zu befürchten.
Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt
in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.
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