Gastbeitrag
Streitkräfte und Strategien - NDR info
14. Juni 2014


Modernisierung statt Abrüstung – Ein Jahr nach Obamas Berliner Rede

Gastbeitrag von Thomas Horlohe


Besser hätten die Bedingungen für Barack Obamas Rede am 19. Juni 2013 nicht sein können: Strahlender Sonnenschein und ein Berliner Publikum, das ihm vor der historischen Kulisse des Brandenburger Tors einen herzlichen Empfang bereitete. Der Friedensnobelpreisträger krempelte die Ärmel seines blütenweißen Hemdes auf und feierte sich als Abrüstungspräsident: 

O-Ton Obama (overvoice)
„Ich habe unsere Anstrengungen verstärkt, die Verbreitung von Nuklearwaffen aufzuhalten und die Zahl und die Bedeutung von Amerikas Kernwaffen verringert. Aufgrund des New START-Vertrages sind wir dabei, die Zahl der dislozierten Atomsprengköpfe Amerikas und Russlands auf das niedrigste Niveau seit den 1950er Jahren zurückzuführen.“

Der Präsident versprach, sich selbst noch zu übertreffen:

O-Ton Obama (overvoice)
„Aber wir müssen noch mehr tun. Deshalb kündige ich heute weitere Schritte nach vorn an. Als Ergebnis einer umfassenden Überprüfung bin ich zu der Feststellung gelangt, dass wir die Sicherheit Amerikas und unserer Verbündeten (…) auch mit einem Drittel weniger stationierter Nuklearwaffen gewährleisten können. Ich beabsichtige mit Russland über diese Einschnitte zu verhandeln.“

Dann kam Obama auf die Atomwaffen, die viele Deutsche besonders beunruhigen. Für Rüstungskritiker gehören sie schon längst auf den Müllhaufen der Geschichte: die sogenannten taktischen Nuklearwaffen. Fast ein Vierteljahrhundert nach Ende des Kalten Krieges sind sie noch immer für den Einsatz auf dem sogenannten europäischen Kriegsschauplatz vorgesehen. Obama weiter:

O-Ton Obama (overvoice)
„Wir werden mit unseren NATO-Verbündeten zusammenarbeiten, um bei den US-amerikanischen und russischen taktischen Atomwaffen in Europa mutige Abrüstungsschritte zu erzielen.“

Ein Jahr danach stellt sich die Frage: Was ist aus den wohlklingenden Worten geworden?

Bereits der kritische Blick auf den Redetext ernüchterte: Das New START-Rüstungskontrollabkommen, für das der Präsident Beifall heischte, war fraglos ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Doch hier lautet das Schlüsselwort „dislozierte“ Atomsprengköpfe. Das bedeutet, die nach dem Abkommen überzähligen Sprengköpfe werden von den Trägersystemen, also z.B. den Interkontinentalraketen lediglich heruntergeladen und entfernt. Aber damit sind sie noch nicht unschädlich gemacht und verschrottet, sondern einer Reserve zugeführt, die einer abstrakten Risikovorsorge dienen soll.

Die gründliche Überprüfung der Atomstreitkräfte und –strategie, auf die der Präsident sich in seiner Berliner Rede bezog, hatte  über zwei Jahre benötigt. Das Ergebnis - dass die USA mit einem Drittel weniger strategischer Nuklearwaffen auskommen können - war bereits vier Monate zuvor durchgesickert. Es ist erfreulich, aber gemessen am Anspruch des Präsidenten doch eher bescheiden. Verständlich, mithilfe dieser Verhandlungsmasse mit Russland eine Verringerung gleichen Umfangs vereinbaren zu wollen. Nur war dieser Versuch bereits wenige Wochen vor seiner Berliner Rede gescheitert. Obamas Sicherheitsberater hatte sich bei seinem Besuch in Moskau mit den Abrüstungsvorschlägen für strategische Nuklearwaffen eine Abfuhr geholt. Überraschend kam das nicht. Bereits in der Präambel zum New START-Vertrag hatte Russland sehr deutlich gemacht, dass seine Sorgen zwei ganz anderen Kategorien von Waffensystemen gelten: der Raketenabwehr und Langstrecken-Raketen mit konventionellen Sprengköpfen.

Ein Jahr nach seiner Berliner Rede muss sich der US-Präsident die Frage gefallen lassen: Wenn sein Ziel eine atomwaffenfreie Welt ist, warum hält er dann weiterhin an 1.550 US-Atomwaffen fest, ein Drittel mehr, als Obama für nötig hält? Auf Dauer ist Einsicht ohne Konsequenzen zu wenig.

Die Ankündigung des US-Präsidenten, „mutige“ Abrüstungsschritte bei den taktischen Atomwaffen zu unternehmen, erwies sich ebenfalls als fragwürdig. Zeitgleich zur Rede des Präsidenten in Berlin hatte  sein Pressesprecher in Washington eine Mitteilung über die neue Einsatzstrategie für Nuklearwaffen veröffentlicht, auf die der Präsident Bezug nahm. Mit Erstaunen konnte man lesen, dass die Direktive zur neuen Einsatzstrategie für Atomwaffen gar keine neuen Aussagen zu den taktischen Nuklearwaffen in Europa enthält. Wörtlich:

Zitat
„Diese Analyse beschäftigt sich nicht mit den in Europa vorn stationierten Waffen, mit denen die NATO unterstützt werden soll.“   

Das bedeutet, Obama erweckte in seiner Berliner Rede zwar den Eindruck, er habe einen neuen Anlauf zu „mutigen“ Abrüstungsschritten bei taktischen Nuklearwaffen angeordnet. Tatsächlich hatte er diese Waffensysteme jedoch ausgeklammert.
 
Das US-Verteidigungsministerium wurde in seinem obligatorischen Bericht an den Kongress noch  deutlicher:

Zitat
„In Übereinstimmung mit der Deterrence and Defense Posture Review der NATO aus dem Jahr 2012 sollte das vorn stationierte Dispositiv so lange beibehalten werden, bis die NATO einvernehmlich feststellt, dass die Zeit reif ist, Änderungen vorzunehmen.“

Im Klartext: die Regierung Obama macht ihre „mutigen“ Abrüstungsschritte vom Konsens ihrer NATO-Verbündeten abhängig, die in dieser Frage bisher bestenfalls Formelkompromisse zustande bringen. Denn für einige NATO-Staaten sind die taktischen Atomwaffen gefährliche Altlasten aus dem Kalten Krieg, doch für die östlichen Bündnismitglieder und Nachbarn Russlands sind sie eine Versicherungspolice, gerade jetzt nach der Krim-Krise. Für sie sind diese Waffen ein wichtiger Teil des nuklearen Schutzschirms der Vereinigten Staaten.
 
Ein Jahr nach der Rede Obamas vor dem Brandenburger Tor sind die Chancen auf Abrüstung taktischer Atomwaffen nahezu Null. Oliver Meier von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik und Simon Lunn, vormals Generalsekretär der Nordatlantischen Versammlung, machen sich in einem gemeinsamen  Aufsatz keine Illusionen - Zitat:

Zitat
„In den letzten Jahren sind die Bemühungen um eine Wiederbelebung des Rüstungskontrolldialogs zwischen der NATO und Russland vollständig zum Erliegen gekommen. Russlands fehlende Dialogbereitschaft und die Weigerung einiger NATO-Mitglieder, Veränderungen im nuklearen Dispositiv des Bündnisses vom Verhalten Russlands zu entkoppeln, haben zu einem Stillstand geführt.“ 

Bleibt es also in Sachen Atomabrüstung beim Stillstand? So könnte man denken. Doch mit der Annexion der Krim durch Russland könnte aus Stillstand sogar Rückschritt werden.
 
Zu den Kollateralschäden der Ukraine-Krise dürfte die Abrüstungsbereitschaft insbesondere kleiner Nuklearstaaten zählen. Im Budapester Memorandum von 1994 hatte die Ukraine auf Atomwaffen verzichtet und im Gegenzug Sicherheitsgarantien Russlands, der USA und Großbritanniens erhalten. Zwanzig Jahre später haben sie sich  als wertlos erwiesen. Andere kleine Staaten, wie Nordkorea, Iran und Pakistan, setzen bisher erfolgreich auf die abschreckende Wirkung von Atomwaffen. Libyens  Diktator Gaddafi verzichtete darauf, musste ausländische Interventionen im Bürgerkrieg hinnehmen und bezahlte diesen Fehler mit dem Leben. Kernwaffen könnten also wieder attraktiver werden, besonders für schwache oder gefährdete Staaten. Einige  Strategieexperten sprachen bereits vor der Krim-Annexion von einer Renaissance der Nuklearabschreckung. Paul Bracken, Sicherheitsexperte und Professor an der Universität von Yale, rief sogar ein „Zweites Nuklearzeitalter“ aus.

Die langfristigen Konsequenzen der verdeckten russischen Militärintervention in der Ukraine sind längst noch nicht abschätzbar. Zu befürchten ist allerdings, dass  einige Staaten künftig mehr auf atomare Abschreckung als auf Abrüstung setzen werden.