Gastbeitrag aus
Streitkräfte und Strategien - NDR info
15. Dezember 2012


Zwischen Abschreckung und Intervention

Patriot-Stationierung als Vorbereitung für ein militärisches Eingreifen in Syrien?

Gastbeitrag von Andreas Dawidzinski

Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis. Wird ein Mitglied angegriffen, dann kann es Beistand erwarten. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Mit der Bündnissolidarität begründet Verteidigungsminister de Maizière dann auch die Entsendung der Patriot-Flugabwehrraketen in die Türkei. Er verweist dabei auch auf die Vergangenheit:

O-Ton de Maizière
„Deutschland war 45 Jahre der Hauptnutznießer von Bündnissolidarität. Wenn jetzt ein Bündnispartner uns um eine solche Maßnahme bittet, dann ist es für uns klar, dass wir dem offen und solidarisch gegenübersehen.“

Die Stationierung der Patriot-Einheiten würde militärisch Sinn machen, wenn die Türkei mit einem syrischen Angriff rechnen müsste. Doch wird die Türkei wirklich von Syrien bedroht? Danach sieht es zurzeit nicht aus.

Denn das Assad-Regime befindet sich in der Defensive – politisch aber auch militärisch. Die syrischen Streitkräfte haben die Kontrolle über Teile des Landes verloren. Die Aufständischen verüben immer wieder Anschläge, Ortschaften und manchmal auch ganze Stadtteile werden von ihnen gehalten. Immer mehr Soldaten und auch Offiziere laufen zu den Aufständischen über.

Da ist es schwer vorstellbar, dass das Regime in Damaskus zusätzlich den Konflikt mit der militärisch weit überlegenen Türkei sucht. Ein Angriff auf das NATO-Land Türkei würde in einem militärischen Debakel enden, und wäre das endgültige Ende des Assad-Regimes. Syrien hat also kein Interesse an der Ausweitung des Konfliktes auf die Türkei. Daran ändern auch die Zwischenfälle an der türkisch-syrischen Grenze nichts. Den Beschuss mit Mörser- und Artillerie-Granaten können zudem Patriot-Abwehrraketen nicht verhindern.

Anders dagegen ist die Interessenlage der Regierung in Ankara, und insbesondere der Aufständischen. Die Türkei fühlt sich von der NATO und dem Westen schon seit geraumer Zeit im Stich gelassen. Das Land hat Tausende von Flüchtlingen aufgenommen. Ankara ist praktisch Kriegspartei in dem syrischen Konflikt. Die Aufständischen operieren bereits seit langem von türkischem Boden aus. Von dort aus werden Operationen gegen das Assad-Regime geplant und koordiniert. Die Türkei ist zudem Rückzugsraum der Rebellen, und offenbar läuft auch der Nachschub mit Waffen über das Territorium des NATO-Mitgliedslandes. Außerdem verfolgt die Regionalmacht Türkei im Mittleren Osten eigene machtpolitische Interessen. Ankara sieht sich als Major-Player in der Region. Die türkische Regierung hat sich schon seit einiger Zeit für die Einrichtung einer Pufferzone bzw. einer Flugverbotszone im Norden Syriens eingesetzt. Bei den NATO-Partnern sind solche Pläne bisher allerdings auf Ablehnung gestoßen. Zwar unterstützt Washington die Rebellen - offiziell allerdings nicht mit Waffen, sondern mit, wie es heißt, „nichtlethalen“, also nichttödlichen Mitteln.

Denn im Bündnis herrscht Einvernehmen darüber, dass die Zeit von Assad abgelaufen ist. Doch eine Militärintervention wird von den westlichen Regierungen in der Öffentlichkeit weiter abgelehnt, jedenfalls ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates.

Mit der türkischen Bitte nach Patriot-Abwehrraketen aus den USA, Deutschland und den Niederlanden wird der Syrien-Konflikt jetzt jedoch internationalisiert. Für Kritiker ein Schritt zur Eskalation der Krise. Die Bundesregierung sieht das allerdings anders. Die Entsendung der Waffensysteme bedeute nicht, dass Deutschland nun schleichend Kriegspartei werde. Verteidigungsminister de Maizière im vergangenen Monat im Bundestag:

O-Ton de Maizière
„Die Türkei selbst schreibt in ihrem Antrag: Diese Sta­tionierung – ich habe hier den Text nur auf Englisch, ich übersetze ihn mit meinen eigenen Worten – wird aus­schließlich defensiv sein, sie wird – in no way support – in keiner Weise eine Flugverbotszone oder irgendeine offensive Operation unterstützen.“

Für den Verteidigungsminister sind mit dieser Erklärung aus Ankara Mutmaßungen über eine Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg gegenstandslos.

Doch für die USA ist ein Eingreifen in den Bürgerkrieg keineswegs ausgeschlossen. Denn Syrien verfügt über größere Mengen an chemischen Waffen. Für Washington wäre mit dem Einsatz von C-Waffen eine Rote Linie überschritten. Anfang des Monats warnte daher US-Präsident Obama Machthaber Assad:

O-Ton Obama (overvoice)
„Die Welt schaut genau hin. Der Einsatz von chemischen Waffen ist völlig unannehmbar. Wenn Sie einen solchen tragischen Fehler begehen und die Waffen einsetzen, dann wird das Konsequenzen haben. Und Sie werden dafür zur Rechenschaft gezogen.“

Die Sorge der Amerikaner ist dabei auch, dass chemische Kampfstoffe in die Hände von Terroristen geraten könnten. Spekuliert wird zudem, Syrien könnte mit chemischen Waffen bestückte Scud-Raketen auf die Türkei abschießen.

Die Bundesregierung selbst hat darüber jedoch keine Erkenntnisse. Verteidigungsminister de Maizière:

O-Ton de Mazière
„Wir erkennen keine Absicht der syrischen Seite, diese Waffen einzusetzen, aber die syrische Seite hat die Fähigkeit dazu. Und deswegen dient Abschre­ckung dazu, dass aus der Fähigkeit keine Absicht wird.“

Auf Abschreckung allein wollen sich die USA allerdings nicht verlassen. Es gibt offensichtlich schon Planungen, gegebenenfalls in Syrien einzugreifen, um die an mehreren Standorten im Land gelagerten chemischen Kampfstoffe zu sichern. Es heißt, für eine solche Operation stünden bis zu 75.000 Soldaten bereit. Einige davon in Jordanien. Bei einer Militäraktion dürfte dann auch der US-Stützpunkt Incirlik in der Türkei eine wichtige Rolle spielen. Die Basis unweit der Stadt Adana gehört zu den Objekten, die durch Patriot-Flugabwehr-Raketen geschützt werden sollen.

Nach der Präsidentenwahl zeichnet sich in den USA zudem die Tendenz ab, dem Morden in Syrien nicht mehr wie bisher untätig zuzuschauen. Der US-Senat hat die Regierung Anfang des Monats mit überwältigender Mehrheit aufgefordert, innerhalb von 90 Tagen, militärische Optionen vorzulegen, wie Assad daran gehindert werden kann, seine Luftstreitkräfte gegen das eigene Volk einzusetzen. In der Senats-Entschließung werden als mögliche Instrumente die Einrichtung von Flugverbotszonen und die Stationierung von Patriot-Abwehrsystemen genannt. Die militärischen Aktivitäten sollten zusammen mit den Verbündeten erfolgen.

Der Nahostexperte Udo Steinbach geht davon aus, dass eine Militärintervention in Syrien nur noch eine Frage der Zeit ist. Denn beide Bürgerkriegsparteien seien nicht in der Lage, den Konflikt militärisch zu ihren Gunsten zu entscheiden. Die Patriot-Stationierung ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Das Interventions-Szenario erklärt zudem den auf den ersten Blick schwer nachvollziehbaren Appell der türkischen Regierung nach Bündnis-Unterstützung.

Denn zurzeit wird die Türkei nicht von syrischen Raketen oder Kampfflugzeugen bedroht. Mit der Einrichtung einer Flugverbotszone oder einer US-Operation zur Sicherung syrischer C-Waffen könnte sich das aber schnell ändern – insbesondere, wenn diese Militäraktion von türkischem Boden aus erfolgen würde.

Die Bundesregierung betont zwar den defensiven Charakter der Patriot-Entsendung. Die Luftabwehrsysteme sollen rund 100 Kilometer hinter der syrisch-türkischen Grenze stationiert werden – damit sie nicht in den syrischen Luftraum hineinwirken können. Sie könnten damit keine Flugverbotszone durchsetzen. Doch die Patriot-Systeme sind mobil und könnten innerhalb von Stunden direkt an die Grenze verlegt werden. Der ehemalige Luftwaffen-General Hermann Hagena:

O-Ton Hagena
„Sie sind verlegbar. Wir haben das ja im Golfkrieg von 2003 gesehen, dass die Patriot praktisch hinter den Panzer-Divisionen nach vorne verlegt wurden. Also das ist im Grunde genommen kein Problem.“

Bisher hat die NATO in dem Syrienkonflikt keine Rolle gespielt. Auf der Tagung der NATO-Außenminister in der vergangenen Woche wurde aber deutlich, dass sich auch das schon bald ändern könnte. Generalsekretär Rasmussen machte sich dafür stark, das Bündnis darauf vorzubereiten, notfalls auch militärisch einzugreifen. Angesichts der Entwicklungen in Syrien und in der für die Ölversorgung wichtigen Straße von Hormus im Golf, dürfe die NATO „den Kopf nicht in den Sand stecken“, wird der Generalsekretär des Bündnisses zitiert. Rückendeckung bekam der Däne dabei von US-Außenministerin Clinton sowie ihrem türkischen und britischen Kollegen. Andere Außenminister, unten ihnen Guido Westerwelle, wollten dem Ansinnen des NATO-Generalsekretärs allerdings nicht folgen. Der FDP-Politiker unmittelbar nach der Patriot-Entscheidung des Bundeskabinetts auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Thomas de Maizière im Verteidigungsministerium:

O-Ton Westerwelle
„Ich will aus aktuellem Anlass aber auch noch einmal deutlich machen, Deutschland ist an keinerlei Überlegungen oder Planungen beteiligt, die auf eine Intervention hinauslaufen. Das was dazu an Spekulationen verbreitet ist, kann ich nur zur Kenntnis nehmen, aber Deutschland ist an solchen Überle­gungen nicht beteiligt. Und wenn es darum geht, dass Chemiewaffen in Syrien nicht eingesetzt werden dürfen, dann ist dieses eine rote Linie, die nicht die NATO zieht, der Westen zieht, das ist eine rote Linie, die die gesamte Völker­gemeinschaft zieht.“

Und sollten Chemiewaffen eingesetzt werden? Dann ist für Westerwelle nicht die NATO in Brüssel gefragt, sondern die UNO in New York:

O-Ton Westerwelle
„Würden solche Chemiewaffen eingesetzt, habe ich keinen Zweifel daran, dass innerhalb der Vereinten Nationen eine neue Lage entstünde, bei der Russland und China ihre Haltung überdenken müssten und darauf zielen, auch die politi­schen Mahnungen, die zurecht von allen Beteiligten der internationalen Ge­meinschaft ausgesprochen wurden.“

Westerwelle setzt also auf die UNO und nicht auf die NATO. Dahinter steckt die Hoffnung auf ein Ende der Blockade im UN-Sicherheitsrat. Eine Zuversicht, die allerdings nicht von jedem Mitglied der Bundesregierung geteilt wird.

Thomas de Maizière ist schon seit langem gegen eine Sonderrolle Deutschlands im Bündnis. Der Verteidigungsminister plädiert zudem für Auslandseinsätze der Bundeswehr, ggf. auch losgelöst von deutschen Interessen. Die Nichtbeteiligung am NATO-Einsatz in Libyen – für viele ein Sündenfall, der bei den Bündnispartnern große Zweifel an der Zuverlässigkeit Deutschlands ausgelöst hat. Auch um diesen Ansehensverlust wettzumachen, wurde die Patriot-Anfrage der Türkei diesmal von der Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Mit der Entsendung erhofft sich die Regierung wieder mehr Einfluss im Bündnis. Der Türkei-Einsatz, quasi eine Kompensation für die Nichtbeteiligung in Libyen.

Anders als beim NATO-Einsatz im vergangenen Jahr in Nordafrika wäre die Bundeswehr bei einer Auseinandersetzung mit Syrien diesmal mit im Boot und nicht mehr auf der Zuschauer-Tribüne. Auch wenn die Patriot-Stationierung offiziell defensiver Natur ist und der Abschreckung dienen soll.

Aber wenn diese versagt - ist die Bundeswehr dann wirklich optimal vorbereitet? Was genau passiert, wenn die Patriot-Systeme anfliegende mit chemischen Kampfstoffen ausgestattete syrische Raketen abschießen, das ist weitgehend offen. Der frühere Luftwaffengeneral Hermann Hagena:

O-Ton Hagena
„Mit Blick auf C-Waffen gibt es theoretische Untersuchungen, aus der Mitte der 90er Jahre, wo die Israelis gesagt hatten: man muss damit rechnen, dass, wenn man eine solche Rakete abschießt, die mit einem C-Waffen-Sprengkopf ausgerüstet ist, dass dann die chemischen Substanzen sich möglicherweise sogar noch wirkungsvoller verteilen, als wenn die Rakete erst am Boden detoniert.“

Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus sinnvoll, wenn zu den Patriot-Staffeln auch noch eine ABC-Abwehrkomponente in die Türkei geschickt worden wäre. Vielleicht wollte die Bundeswehr-Führung das sogar. Das Problem: Das ABC-Abwehrregiment 750 aus Bruchsaal ist mit seinen Spezialisten seit Oktober wieder im Kosovo eingesetzt. Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres. Sie fahren dort Patrouille oder stehen bereit, mit Schlagstöcken notfalls bei gewaltsamen Demonstrationen einzuschreiten.

Ein anderes Problem sind die Abfangraketen der Patriot-Systeme. Die Bundeswehr verfügt über eine nur geringe Anzahl der modernen PAC-3 Flugkörper. Offiziell macht die Luftwaffe hierzu keine Angaben. Kenner sprechen aber von gerade einmal 24 Flugkörpern. Der Grund: Die PAC-3 Flugkörper sind teuer, das Stück kostet mehrere Millionen Euro. Mit der vorhandenen sogenannten Anfangsbefähigung können aber gerade einmal drei Startgeräte ausgestattet werden. Jede Patriot-Staffel verfügt jedoch über bis zu acht solcher Launcher. Deswegen werden auch ältere Flugkörper in den Einsatz gehen – PAC-2-Raketen. Diese aber haben einen großen Nachteil. Der frühere Luftwaffengeneral Hermann Hagena:

O-Ton Hagena
„Nun muss man wissen, die PAC-2 ist zur Abwehr von Raketen also wirklich nur marginal geeignet. Zumal man wissen muss, dass die Einsatztaktik vorsieht gegen jede anfliegende Rakete immer zwei Abwehr-Raketen einzusetzen, um die Abschusswahrscheinlichkeit zur erhöhen.“

Der Patriot-Einsatz kommt für die Luftwaffe aber auch wegen der Neuausrichtung der Bundeswehr zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Statt drei wird es künftig nur noch ein Flugabwehrraketen-Geschwader geben: Das FlaRak-Geschwader 1 in Husum - mit Patriot-Staffeln in Sanitz und Bad Sülze in Mecklenburg-Vorpommern. Insgesamt 1.800 Soldaten sollen dem Großverband ab 1. April angehören. Gegenwärtig sind es 1.500. FlaRak-Soldaten dieses Verbandes sind zurzeit in Afghanistan - u.a. in Funktionen, für die sie ursprünglich gar nicht ausgebildet worden sind. Einige sind beispielsweise als Mentoren und Berater der afghanischen Sicherheitskräfte eingesetzt worden. In der vergangenen Woche wurden zudem FlaRak-Soldaten aus Sanitz in den Kosovo verabschiedet. Mindestens eine Staffel muss außerdem der NATO-Response-Force, der schnellen Eingreiftruppe des Bündnisses, zur Verfügung stehen. Der jetzt beschlossene Türkei-Einsatz ist für das Geschwader daher eine echte Herausforderung, wie man in der Truppe sagen würde. Hermann Hagena:

O-Ton Hagena
„Ein Patriot-Geschwader und eine Patriot-Staffel, die in der Umrüstung sind, bedeuten ja zugleich Umschulung des Personals, bedeuten Unruhe, bedeuten zusätzliche Ausbildung. Eine solche Einheit dann zu verlegen, ist mit Sicherheit nicht ideal.“

Normalerweise wird für jeden Auslandseinsatz eine Exit-Strategie gefordert. Das heißt, es soll bereits klar sein, wie eine Mission wieder beendet werden kann. Für den Patriot-Einsatz gibt es allerdings keine Exit-Strategie. Das Mandat dauert bis zum Januar 2014. Verlängerung nicht ausgeschlossen.

Laut Bundestagsmandat wird der zunächst rund einjährige Bundeswehr-Einsatz in der Türkei ca. 25 Mio. Euro kosten. Finanziert werden soll die Summe aus dem Verteidigungsetat. D.h. das Geld wird der Bundeswehr an anderer Stelle fehlen. Im Koalitionsvertrag ist allerdings vereinbart worden, dass neue Einsätze der Bundeswehr nicht zu Lasten des Verteidigungshaushalts gehen sollen. Dort heißt es:

Zitat Koalitionsvertrag
„Wir werden dafür Sorge tragen, dass zusätzliche einsatzbedingte Aufwendungen für kurzfristige und unvorhersehbare Verpflichtungen der Sicherheitskräfte im Zusammenhang mit internationalen Einsätzen künftig aus dem Einzelplan 60  (Allgemeine Finanzverwaltung) finanziert werden.“

Möglicherweise kommt es für die Bundeswehr aber noch dicker. Die Niederlande entsenden ebenfalls zwei Patriot-Staffeln in die Türkei. Dort geht man aber für das kommende Jahr von erheblich höheren Kosten aus. Die Niederländer rechnen nicht  mit 25 sondern mit 42 Mio. Euro. Möglicherweise eine realistischere Planung.


Andreas Dawidzinski ist freier Journalist.