Gastbeitrag
Freitag
08. Oktober 2011


Widerspruch zu Befehl und Gehorsam?
Mitbestimmung bei der Bundeswehr

Gastbeitrag von Jürgen Rose

Der 1. Juli 2011 markiert eine Zäsur in der Geschichte der Bundeswehr. Denn an diesem denkwürdigen Datum endete nach fünfundfünfzig Jahren die allgemeine Wehrpflicht. Eine der Hauptbesorgnisse, die die Wehrpflichtanhänger in der langjährigen Kontroverse um die richtige Wehrform immer wieder vorbrachten, lautete, eine Freiwilligenstreitkraft aus Zeit- und Berufssoldaten wäre weit weniger in die Gesellschaft integriert als die lang bewährte Wehrpflichtarmee. Groß sei somit die Gefahr, dass, wie schon zu Zeiten der Reichswehr, ein „Staat im Staate“ entstehe. Doch um einer solchen Entwicklung vorzubeugen, gibt es die lang bewährten Instrumente demokratischer Kontrolle. Gleichwohl bietet sich noch eine weitere Option an, um die demokratische Zuverlässigkeit der Armee auch unter den geänderten wehrpolitischen Rahmenbedingungen sicherzustellen. Nämlich: die Binnenstruktur des Militärs zu demokratisieren, also auch in der Bundeswehr mehr Demokratie zu wagen.

Dass dies keineswegs abwegig ist, wusste schon der Spiritus Rector der „Inneren Führung“, der General, Friedensforscher und Militärphilosoph Wolf Graf von Baudissin. Der nannte es eine „Binsenwahrheit“, dass:

Zitat
„Demokratie nicht am Kasernentor aufhört“.

Einer seiner engsten Mitstreiter, General Johann Adolf Graf Kielmansegg, stieß in dasselbe Horn, als er 1953 in der Wiederbewaffnungsdebatte forderte:

Zitat
„Aber es muss auch […] eine Armee in der Demokratie [geben], das ist entscheidend wichtig. Denn sonst haben wir, und wir kennen beides, eine Armee neben oder gegen die Demokratie. Und es muss auch, im Sinne des Gesagten, geben: Demokratie in der Armee.“

Unglücklicherweise hatte der General damals nicht näher erläutert, was er konkret unter „Demokratie in der Armee“ verstanden wissen wollte. Wie sich sein Anliegen interpretieren lässt, erklärt der Militärhistoriker  Detlef Bald, ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der „Inneren Führung“:

O-Ton Bald
„Diese Aussage nach Demokratie in der Armee wird zunächst Widerspruch hervorrufen und manche überraschen. Aber sie ist von Anfang an Bestandteil der Reform der Bundeswehr nach dem Geist der Inneren Führung gewesen. Schon ganz früh hat Baudissin den restaurativen Anfangsprozess beklagt, aber er hat bis Ende der siebziger Jahre immer wieder gesagt: Wir brauchen freiheitlich-demokratische Verfahrensweisen in der Bundeswehr. Jetzt in den Reformbemühungen der Regierung [unter Verteidigungsminister] de Maizière ist das eine absolut notwendige, neue Form, über Innere Führung nachzudenken.”

In der wehrpolitischen Debatte um die Aufstellung der Bundeswehr in den 50-iger Jahren beurteilten dies Spitzenpolitiker freilich ganz anders. Den Haupteinwand formulierte damals der Sozialdemokrat Fritz Erler:

Zitat
„Die Demokratie funktioniert durch Diskussion und Abstimmung; die Armee hingegen beruht auf Befehl und Gehorsam. Es gibt dann auch keine demokratische Armee; es gibt nur eine Armee in der demokratischen Gesellschaft: eine Armee als treue Dienerin der demokratischen Regierungen.“

Hinter solchen Erwägungen standen einerseits die Angst vor einer Verselbständigung der Armee sowie der Wille, unter allen Umständen den Primat der Politik gegenüber dem Militär durchzusetzen. Andererseits jedoch offenbarte sich in ihnen ein eklatanter Mangel an Phantasie, wie „demokratisch“ denn überhaupt Streitkräfte konstituiert sein könnten, die zugleich in der Lage wären, ihren Auftrag in Frieden, Krise und Krieg zu erfüllen. Immerhin gab es auch andere Stimmen wie den ersten Verteidigungsminister der jungen Bundesrepublik, Theodor Blank, der konzedierte, dass:

Zitat
„Das innere Gefüge dieser Truppe dem demokratischen Charakter unserer Staats- und Gesellschaftsordnung entsprechen muss.“

Vor dem Hintergrund der Wiederbewaffnungsdebatte entstanden später vielfältige Modellvorstellungen zur Ausweitung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten in der Bundeswehr. Fast alle diese Vorschläge beschränkten sich allerdings auf eine Ausweitung demokratischer Mitwirkung in peripheren Bereichen. Sie betrafen Fürsorge- und Sozialeinrichtungen, Betreuungsangelegenheiten, Fragen des inneren Dienstes und – mit Einschränkungen – Personalangelegenheiten.

Ein Offizier, der durch sein persönliches Engagement zu mehr gelebter Demokratie in der Truppe beitragen möchte, ist der Oberfeldarzt Michael Zettl. Als freigestellter Personalratsvorsitzender des Örtlichen Personalrates beim Sanitätsamt der Bundeswehr in München wirkt er gemäß Personalbeteiligungsgesetz an einer Vielzahl dienstlicher Entscheidungsprozesse mit. Seine Einflussmöglichkeiten in dieser Funktion sieht er durchaus positiv:

O-Ton Zettl
„Die Beteiligung von Soldaten und zivilen Mitarbeitern an Entscheidungen des Dienstherrn ist im internationalen Vergleich tatsächlich einzigartig. Allerdings muss man bei den Beteiligungsformen zwischen der Mitbestimmung, der Mitwirkung und der Anhörung klar differenzieren. Dabei ist Mitbestimmung die wirksamste Beteiligungsform, da die Maßnahme dann nur mit Zustimmung des Personalrats durchgeführt werden darf. Soweit gesetzliche oder tarifrechtliche Regelungen nicht bestehen, werden regelmäßig zwischen dem Personalrat und dem Dienststellenleiter Dienstvereinbarungen geschlossen. Insgesamt ist die Stellung des Personalrates jedoch nicht so stark wie die eines Betriebsrates, zumal das Bundesverfassungsgericht für besonders wichtige Maßnahmen das Primat des politisch Verantwortlichen gesetzt hat.“

Über diese Beteiligungsrechte hinaus wären freilich noch weitere Optionen für die Ausweitung demokratischer Mitbestimmung in der Bundeswehr denkbar. Das beträfe beispielsweise die Demokratisierung der Führerauswahl oder Verfahren zur kooperativen Personalführung. Selbst für den Bereich der Operationsplanung im Einsatz erscheint die Einführung demokratischer Abstimmungsmechanismen nicht als ausgeschlossen. So hieß es hierzu - noch ganz unter dem Eindruck der Kriegserfahrungen - in den 1955 vom Amt Blank vorgelegten Grundsatzplanungen für den deutschen Verteidigungsbeitrag:

Zitat
„Selbst an der Front gab es in guten Truppenteilen so etwas wie einen ‚Kriegsrat‘, zu dem jeder zugezogen werden konnte.“

Doch sind derartige Überlegungen auch in heutigen Konfliktszenarien realistisch? Andreas Prüfert ist Oberstleutnant der Reserve. Der studierte Diplom-Pädagoge ist derzeit zum wiederholten Mal als Reserveoffizier in Afghanistan im Einsatz. Prüfert ist skeptisch:

O-Ton Prüfert
„In den heutigen Konfliktszenarien sind die Soldaten der Bundeswehr häufig multinational eingesetzt. Die bei uns erreichten Beteiligungsrechte sind in anderen Streitkräften oft so noch nicht vorhanden. Solange sich also gesellschaftlich nicht in allen Nationen durchgesetzt hat, dass Soldaten ihre Interessen, wie alle anderen Arbeitnehmer auch, selbst oder durch Vertretungen wahrnehmen dürfen, wird es schwer sein, mehr demokratische Mitwirkung in den heutigen Einsätzen umzusetzen.”

Trotzdem hat der 1. Wehrdienstsenat am Bundesverwaltungsgericht vor zwei Jahren entschieden, dass auch bei Auslandseinsätzen Versammlungen der Vertrauenspersonen zu bilden und in der gesetzlich vorgesehenen Weise zu beteiligen sind.

Insgesamt betrachtet hat die Bundeswehr bis heute also durchaus Fortschritte in Richtung stärkerer demokratischer Mitsprache im militärischen Alltag gemacht. Allerdings sind längst nicht alle Chancen zur inneren Demokratisierung ausgeschöpft. Die Bundeswehr von heute mag ein technokratischer Riese sein, doch bleibt sie immer noch ein demokratischer Zwerg.


 

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.