Gastbeitrag
Freitag
Nr. 31 / 30. Juli 2009


Verfangen im Sicherheitsnetz

Die Strategie der NATO begünstigt eine schleichende Paramilitarisierung der Außen- und Entwicklungspolitik

Gastbeitrag von Jürgen Rose

"Keine Entwicklung ohne Sicherheit" – dieses Formel wird durch das sicherheitspolitische Establishment stets intoniert, wenn es um die Legitimation der ­NATO-Mission am Hindukusch geht. Vor jeder Kamera und jedem Mikrofon propagiert deshalb Verteidigungsminister Franz Josef Jung den Slogan von der "vernetzten Sicherheit". Die NATO-Offiziellen sprechen vom "Comprehensive Approach", den es in Afghanistan umzusetzen gelte, und meinen damit dasselbe. Was aber verbirgt sich wirklich hinter diesentechnischen Begriffen?

Das Konzept der "vernetzten Sicherheit" wurde einer staunenden Öffentlichkeit bereits im Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr aus dem Jahr 2006 präsentiert. Endgültig festgeschrieben wird dort die "Transformation" der Bundeswehr von einem klassischen Abschreckungs- und Verteidigungsheer zur postmodernen Interventionsarmee mit globalem Auftrag. Der Schlüsselbegriff lautet: Entgrenzung – und zwar in vielfacher Hinsicht.

In dem Weißbuch manifestiert sich dieser geographisch wie inhaltlich "globalisierte" Sicherheitsbegriff unter anderem so: "Deutschlands Sicherheit ist untrennbar mit der politischen Entwicklung Europas und der Welt verbunden. Dem vereinigten Deutschland fällt eine wichtige Rolle für die künftige Gestaltung Europas und darüber hinaus zu." Eine Gestaltungsrolle unter Einschluss militärischer Gewalt wohlgemerkt, denn schließlich sind die deutschen Streitkräfte und ihr Einsatz ja der zentrale Gegenstand eines jeden Weißbuchs.

Nahezu beliebig, quasi allumfassend, dehnen die Weißbuch-Autoren das Verständnis von Sicherheit aus, wenn sie weiter formulieren: "Nicht in erster Linie militärische, sondern gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen, die nur in multinationalem Zusammenwirken beeinflusst werden können, bestimmen die künftige sicherheitspolitische Entwicklung. Sicherheit kann daher weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden. Erforderlich ist vielmehr ein umfassender Ansatz, der nur in vernetzten sicherheitspolitischen Strukturen sowie im Bewusstsein eines umfassenden gesamtstaatlichen und globalen Sicherheitsverständnisses zu entwickeln ist." Mit diesem rhetorischen Kunstgriff einer tautologischen Ausweitung des Sicherheitsbegriffs wird versucht, dem angesichts der ­tatsächlichen weltpolitischen Konflikte ernüchternd ineffektiven militärischen Instrumentarium eine Legitimität zu bewahren, die eigentlich längst nicht mehr zeitgemäß ist.

Darüber hinaus betont das Weißbuch unter dem Schlagwort der "vernetzten Sicherheit" die Notwendigkeit für eine "noch engere Integration politischer, militärischer, entwicklungspolitischer, wirtschaftlicher, humanitärer, polizeilicher und nachrichtendienstlicher Instrumente der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung." Jeder soll mit jedem kooperieren, sowohl zivile und militärische als auch nationale und internationale Akteure, um irgendwie Sicherheit im globalen Maßstab herzustellen – was immer auch darunter zu verstehen sein mag.

Nahezu identische Konzeptionen verfolgt auch die NATO. Schon 2006 hat der NATO-Rat in seiner "Comprehensive Political Guideline" einer engen zivil-militärischen Zusammen­arbeit herausragende Bedeutung zuerkannt. Was die internationalen Einsätze der Allianz anging, hatten die Alliierten die "wachsende Bedeutung von Stabilisierungsoperationen und der militärischen Unterstützung von Wiederaufbaubemühungen im Anschluss an einen Konflikt" erkannt. Allzu deutlich illustriert die nach wie vor desolate Lage im Irak, in Pakistan und mehr noch in Afghanistan, dass es längst nicht mehr genügt, einen Feldzug zu gewinnen. Entscheidende Bedeutung besitzt vielmehr, dass auch die anschließende Besatzung funktioniert. Hierfür werden eben nicht nur schwer bewaffnete Soldaten benötigt, die Aufständische bekämpfen, sondern vor allem Entwicklungshelfer, Juristen, Ingenieure, Lehrer und Polizisten für den zivilen Wiederaufbau. Genau darauf zielt der so emphatisch propagierte "Comprehensive Approach" ab. Dessen Kernelement bildet die so genannte "Civil-Military Cooperation" – kurz CIMIC – wie es im NATO-Jargon heißt.

Das deutsche Konzept der "vernetzten Sicherheit" nennt dies "zivil-militärische Zusammenarbeit" – kurz ZMZ. Hinter dieser so harmlos klingenden Terminologie verbirgt sich freilich ein äußerst gefährlicher Prozess. Denn unter dem Deckmantel der zivil-militärischen Zusammenarbeit vollzieht sich eine schleichende Paramilitarisierung der Außen- und Entwicklungspolitik. Der Grund dafür ist, dass innerhalb dieser Konzepte die ursprünglich nicht-militärischen Instrumente genau wie die zivilen Akteure in verstärktem Maße der Militärlogik untergeordnet werden – und das dauerhaft. So lässt sich in Afghanistan beobachten, dass Sicherheit immer mehr vor Entwicklung und Wiederaufbau rangiert.

Zivile Akteure werden dazu gebracht, ihre Haltung sicherheitspolitisch zu deformieren

Durch diesen Trend zur "Versicherheitlichung" aber werden Konfliktursachen, die eigentlich ökonomischer und sozialer Natur sind und die militärisch bestenfalls temporär eingedämmt, jedoch nie gelöst werden können, plötzlich zum Gegenstand von Sicherheitspolitik erklärt und zu einem Aufgabengebiet des Militärs umdefiniert. Mit mehr oder weniger sanfter Gewalt werden die zivilen Akteure dazu gebracht, ihre Haltung sicherheitspolitisch zu deformieren. So wird das Denken in nicht-militärischen Kategorien immer weiter zurückgedrängt und zugleich auf die vorgebliche "ultima ratio" des militärischen Agierens gepolt. Dieser Kurzschluss im Denken blockiert die unabdingbare Frage nach den Konfliktursachen und so die schwierige, aber unverzichtbare Suche nach gewaltfreien und strukturellen Lösungen.

Die Ironie dieses Prozesses der "Versicherheitlichung" liegt darin, dass mit der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs ursprünglich eine völlig andere, ja gegensätzliche Zielrichtung verbunden war. Dadurch dass Sicherheit umfassend oder ganzheitlich definiert wurde, sollte die Reduktion auf die vorherrschende, verengte militärische Perspektive überwunden werden. Und zwar auf zweierlei Weise: Zum einen kam es darauf an, die Relevanz von nicht-militärischen Schwierigkeiten dadurch zu steigern, dass sie zu Sicherheitsproblemen avancierten. Zum anderen verband sich mit einem umfassend verstandenen Sicherheitsbegriff die Hoffnung auf eine Zivilisierung der Sicherheitspolitik. Erreicht werden sollte dies, indem mehr Gewicht auf zivile Kooperation anstelle von militärischer Konfrontation gesetzt wurde.

Doch statt der erstrebten Zivilisierung des Militärischen hat gerade die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs ihrer durchgreifenden Militarisierung Tür und Tor geöffnet. Letztlich ist es dem Militär gelungen, das Sicherheitsverständnis nahezu vollständig zu usurpieren. In dieser Logik dient der umfassende Sicherheitsbegriff konsequent zu Ende gedacht der mentalen Vorbereitung auf einen totalen Sicherheitsstaat. Die vernetzte Sicherheitspolitik dient seiner institutionalisierten Absicherung. Es erfolgt in der Tat eine Vernetzung, aber nicht der Sicherheit, sondern der Unsicherheit: Anfänglich an ferne Peripherien des Westens ausgelagerte Kriege drohen, auf die Heimat zurückzuschlagen – eine logische Folge dieses totalen Sicherheitsverständnis, aber auch möglicher asymmetrischer Konfrontationen, die mit diesem Konzept stimuliert werden. Angesicht dieser bedenklichen Entwicklung ist es dringend notwendig, über einen Rückbesinnung des Militärs auf seine originäre Funktion nachzudenken. Und diese besteht im Schutz des Staates und seiner Bürger vor äußerer Bedrohung. Seinem Wesen nach ist dieser Auftrag defensiv, nicht offensiv. Daraus wiederum folgt, dass die Sicherheit Deutschlands eben nicht am Hindukusch verteidigt wird, sondern ausschließlich in Deutschland.


 

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.