Verfangen im Sicherheitsnetz
Die Strategie der NATO begünstigt eine schleichende Paramilitarisierung
der Außen- und Entwicklungspolitik
Gastbeitrag von Jürgen Rose
"Keine Entwicklung ohne Sicherheit" – dieses Formel wird durch
das sicherheitspolitische Establishment stets intoniert, wenn es um die
Legitimation der NATO-Mission am Hindukusch geht. Vor jeder Kamera
und jedem Mikrofon propagiert deshalb Verteidigungsminister Franz Josef
Jung den Slogan von der "vernetzten Sicherheit". Die NATO-Offiziellen
sprechen vom "Comprehensive Approach", den es in Afghanistan
umzusetzen gelte, und meinen damit dasselbe. Was aber verbirgt sich wirklich
hinter diesentechnischen Begriffen?
Das Konzept der "vernetzten Sicherheit" wurde einer staunenden
Öffentlichkeit bereits im Weißbuch der Bundesregierung zur
Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr aus dem
Jahr 2006 präsentiert. Endgültig festgeschrieben wird dort die
"Transformation" der Bundeswehr von einem klassischen Abschreckungs-
und Verteidigungsheer zur postmodernen Interventionsarmee mit globalem
Auftrag. Der Schlüsselbegriff lautet: Entgrenzung – und zwar in vielfacher
Hinsicht.
In dem Weißbuch manifestiert sich dieser geographisch wie inhaltlich
"globalisierte" Sicherheitsbegriff unter anderem so: "Deutschlands
Sicherheit ist untrennbar mit der politischen Entwicklung Europas und
der Welt verbunden. Dem vereinigten Deutschland fällt eine wichtige
Rolle für die künftige Gestaltung Europas und darüber hinaus
zu." Eine Gestaltungsrolle unter Einschluss militärischer Gewalt
wohlgemerkt, denn schließlich sind die deutschen Streitkräfte
und ihr Einsatz ja der zentrale Gegenstand eines jeden Weißbuchs.
Nahezu beliebig, quasi allumfassend, dehnen die Weißbuch-Autoren
das Verständnis von Sicherheit aus, wenn sie weiter formulieren:
"Nicht in erster Linie militärische, sondern gesellschaftliche,
ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen, die nur
in multinationalem Zusammenwirken beeinflusst werden können, bestimmen
die künftige sicherheitspolitische Entwicklung. Sicherheit kann daher
weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet
werden. Erforderlich ist vielmehr ein umfassender Ansatz, der nur in vernetzten
sicherheitspolitischen Strukturen sowie im Bewusstsein eines umfassenden
gesamtstaatlichen und globalen Sicherheitsverständnisses zu entwickeln
ist." Mit diesem rhetorischen Kunstgriff einer tautologischen Ausweitung
des Sicherheitsbegriffs wird versucht, dem angesichts der tatsächlichen
weltpolitischen Konflikte ernüchternd ineffektiven militärischen
Instrumentarium eine Legitimität zu bewahren, die eigentlich längst
nicht mehr zeitgemäß ist.
Darüber hinaus betont das Weißbuch unter dem Schlagwort der
"vernetzten Sicherheit" die Notwendigkeit für eine "noch
engere Integration politischer, militärischer, entwicklungspolitischer,
wirtschaftlicher, humanitärer, polizeilicher und nachrichtendienstlicher
Instrumente der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung."
Jeder soll mit jedem kooperieren, sowohl zivile und militärische
als auch nationale und internationale Akteure, um irgendwie Sicherheit
im globalen Maßstab herzustellen – was immer auch darunter zu verstehen
sein mag.
Nahezu identische Konzeptionen verfolgt auch die NATO. Schon 2006 hat
der NATO-Rat in seiner "Comprehensive Political Guideline" einer
engen zivil-militärischen Zusammenarbeit herausragende Bedeutung
zuerkannt. Was die internationalen Einsätze der Allianz anging, hatten
die Alliierten die "wachsende Bedeutung von Stabilisierungsoperationen
und der militärischen Unterstützung von Wiederaufbaubemühungen
im Anschluss an einen Konflikt" erkannt. Allzu deutlich illustriert
die nach wie vor desolate Lage im Irak, in Pakistan und mehr noch in Afghanistan,
dass es längst nicht mehr genügt, einen Feldzug zu gewinnen.
Entscheidende Bedeutung besitzt vielmehr, dass auch die anschließende
Besatzung funktioniert. Hierfür werden eben nicht nur schwer bewaffnete
Soldaten benötigt, die Aufständische bekämpfen, sondern
vor allem Entwicklungshelfer, Juristen, Ingenieure, Lehrer und Polizisten
für den zivilen Wiederaufbau. Genau darauf zielt der so emphatisch
propagierte "Comprehensive Approach" ab. Dessen Kernelement
bildet die so genannte "Civil-Military Cooperation" – kurz CIMIC
– wie es im NATO-Jargon heißt.
Das deutsche Konzept der "vernetzten Sicherheit" nennt dies
"zivil-militärische Zusammenarbeit" – kurz ZMZ. Hinter
dieser so harmlos klingenden Terminologie verbirgt sich freilich ein äußerst
gefährlicher Prozess. Denn unter dem Deckmantel der zivil-militärischen
Zusammenarbeit vollzieht sich eine schleichende Paramilitarisierung der
Außen- und Entwicklungspolitik. Der Grund dafür ist, dass innerhalb
dieser Konzepte die ursprünglich nicht-militärischen Instrumente
genau wie die zivilen Akteure in verstärktem Maße der Militärlogik
untergeordnet werden – und das dauerhaft. So lässt sich in Afghanistan
beobachten, dass Sicherheit immer mehr vor Entwicklung und Wiederaufbau
rangiert.
Zivile Akteure werden dazu gebracht, ihre Haltung sicherheitspolitisch
zu deformieren
Durch diesen Trend zur "Versicherheitlichung" aber werden Konfliktursachen,
die eigentlich ökonomischer und sozialer Natur sind und die militärisch
bestenfalls temporär eingedämmt, jedoch nie gelöst werden
können, plötzlich zum Gegenstand von Sicherheitspolitik erklärt
und zu einem Aufgabengebiet des Militärs umdefiniert. Mit mehr oder
weniger sanfter Gewalt werden die zivilen Akteure dazu gebracht, ihre
Haltung sicherheitspolitisch zu deformieren. So wird das Denken in nicht-militärischen
Kategorien immer weiter zurückgedrängt und zugleich auf die
vorgebliche "ultima ratio" des militärischen Agierens gepolt.
Dieser Kurzschluss im Denken blockiert die unabdingbare Frage nach den
Konfliktursachen und so die schwierige, aber unverzichtbare Suche nach
gewaltfreien und strukturellen Lösungen.
Die Ironie dieses Prozesses der "Versicherheitlichung" liegt
darin, dass mit der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs ursprünglich
eine völlig andere, ja gegensätzliche Zielrichtung verbunden
war. Dadurch dass Sicherheit umfassend oder ganzheitlich definiert wurde,
sollte die Reduktion auf die vorherrschende, verengte militärische
Perspektive überwunden werden. Und zwar auf zweierlei Weise: Zum
einen kam es darauf an, die Relevanz von nicht-militärischen Schwierigkeiten
dadurch zu steigern, dass sie zu Sicherheitsproblemen avancierten. Zum
anderen verband sich mit einem umfassend verstandenen Sicherheitsbegriff
die Hoffnung auf eine Zivilisierung der Sicherheitspolitik. Erreicht werden
sollte dies, indem mehr Gewicht auf zivile Kooperation anstelle von militärischer
Konfrontation gesetzt wurde.
Doch statt der erstrebten Zivilisierung des Militärischen hat gerade
die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs ihrer durchgreifenden Militarisierung
Tür und Tor geöffnet. Letztlich ist es dem Militär gelungen,
das Sicherheitsverständnis nahezu vollständig zu usurpieren.
In dieser Logik dient der umfassende Sicherheitsbegriff konsequent zu
Ende gedacht der mentalen Vorbereitung auf einen totalen Sicherheitsstaat.
Die vernetzte Sicherheitspolitik dient seiner institutionalisierten Absicherung.
Es erfolgt in der Tat eine Vernetzung, aber nicht der Sicherheit, sondern
der Unsicherheit: Anfänglich an ferne Peripherien des Westens ausgelagerte
Kriege drohen, auf die Heimat zurückzuschlagen – eine logische Folge
dieses totalen Sicherheitsverständnis, aber auch möglicher asymmetrischer
Konfrontationen, die mit diesem Konzept stimuliert werden. Angesicht dieser
bedenklichen Entwicklung ist es dringend notwendig, über einen Rückbesinnung
des Militärs auf seine originäre Funktion nachzudenken. Und
diese besteht im Schutz des Staates und seiner Bürger vor äußerer
Bedrohung. Seinem Wesen nach ist dieser Auftrag defensiv, nicht offensiv.
Daraus wiederum folgt, dass die Sicherheit Deutschlands eben nicht am
Hindukusch verteidigt wird, sondern ausschließlich in Deutschland.
Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt
in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.
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