Gastbeitrag
Streitkräfte und Strategien - NDR info
19. Mai 2007


Nukleare Abrüstung ohne Chance?
Die Modernisierung der Atomwaffen und ihre Folgen

Dr. Oliver Meier

Zwar verkleinern die USA und Russland ihre Atomwaffenarsenale, aber beide Seiten verfügen immer noch über jeweils mehr als 10.000 Sprengköpfe. Die Reduzierung der Anzahl von Sprengköpfen ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung zur Erfüllung von Abrüstungsverpflichtungen. Denn trotz quantitativer Abrüstung modernisieren alle Kernwaffenbesitzer ihre Atomwaffenarsenale und investieren massiv in ihre nukleare Infrastruktur.

Die USA marschieren voran. "Complex 2030" heißt das Projekt, mit dem Washington den amerikanischen Atomwaffenkomplex verschlanken und zukunftsfähig machen will. Das Programm sieht eine Konsolidierung der überdimensionierten nuklearen Infrastruktur vor, inklusive des Aufbaus neuer Produktionskapazitäten für bis zu 125 neue Kernsprengköpfe jährlich. Der amerikanische Bundesrechungshof kalkuliert dafür Gesamtkosten von mehr als 150 Milliarden Dollar.

Zudem will die amerikanische Regierung die Sprengköpfe ihrer Atomwaffen mittelfristig gegen modernere Waffen austauschen. Bereits 2012 sollen die ersten neuen "Reliable Replacement Warheads" vom Band laufen. Diese so genannten "zuverlässigen Austauschsprengköpfe" traten in den Vordergrund, nachdem die US-Atomwaffenlobby im Oktober 2005 mit ihren Vorschlägen zur Entwicklung von relativ kleinen Atomwaffen – so genannten Mini-Nukes – und bunkerbrechenden Kernwaffen – den Bunkerbustern – am Widerstand des US-Kongresses gescheitert war, weil Parlamentarier neue Rüstungswettläufe fürchteten.

Die Atomwaffenlobby hat ihre Lektion gelernt und begründet die Entwicklung neuer Atomwaffen nun nicht mehr mit dem Ziel verbesserter militärischer Fähigkeiten. Einige US-Atomwaffen könnten möglicherweise durch Alterungsprozesse unsicher werden, so das Argument, daher müsste ein neuer, robuster Sprengkopf her. Diese Behauptung verwundert, denn bisher sind keine Sicherheitsprobleme mit US-Atomwaffen bekannt geworden. Amerikanische Atomwaffenforscher fanden im Gegenteil jüngst heraus, dass die Plutoniumsprengköpfe wesentlich langsamer altern als bisher angenommen und mindestens die nächsten 85 Jahre sicher sind. Zudem geben die USA jährlich rund 6,5 Milliarden Dollar für die Instandhaltung ihres Atomarsenals aus, weit mehr als zu Zeiten des Kalten Krieges.

Die US-Regierung setzt daher auf ein weiteres Argument. Der amerikanische Vertreter auf der Wiener Nichtverbreitungskonferenz argumentierte:

"Der Reliable Replacement Warhead unterstützt die von den Mitgliedern des Atomwaffensperrvertrages vereinbarten Abrüstungsziele und beschleunigt deren Umsetzung."

Die verblüffende Logik: Die USA könnten die Zahl ihrer in Reserve gehaltenen Atomsprengköpfe reduzieren, wenn sie über eine so verlässliche Waffe verfügten. Zudem sei der neue Sprengkopf so robust, dass seine Funktionsfähigkeit auch ohne Atomtests sichergestellt sei.

So wird die Abrüstungslogik ad absurdum geführt. Der Teststopp-Vertrag von 1996 verbietet alle Atomtests und soll so die Entwicklung neuartiger Atomwaffen verhindern. Die USA verknüpfen eine Fortführung des Testmoratoriums nun aber mit der Modernisierung des Atomwaffenarsenals. Und quantitative Abrüstung wird von qualitativer Aufrüstung abhängig.

Welchen militärischen Auftrag der neue Sprengkopf eigentlich erfüllen soll, ist auch den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses im US-Abgeordnetenhaus nicht klar. Sie haben daher beschlossen, dass ein Teil der beantragten Entwicklungsmittel in Höhe von 120 Millionen Dollar für eine unabhängige Expertenkommission eingesetzt wird, die zunächst untersucht, welche Rolle amerikanische Atomwaffen in Zukunft eigentlich spielen sollen. "Erst gehen lernen, dann laufen", gab die demokratische Abgeordnete Ellen Tauscher der Bush-Regierung als Rat mit auf den Weg.

Allerdings folgen auch andere Atomwaffenstaaten dem amerikanischen Beispiel und modernisieren ihre Atomwaffen. Unter massivem Druck der Regierung und gegen den Widerstand eines Viertels der Labour-Abgeordneten hat das Parlament in London im März grünes Licht für die Entwicklung eines Nachfolgesystems für die vier britischen Trident-Atom-U-Boote gegeben. Der Vertreter Großbritanniens auf der Wiener Konferenz betonte zwar, dass der Parlamentsbeschluss sein Land keineswegs verpflichte, auch in 50 Jahren noch Atommacht zu sein. Aber angesichts geschätzter Modernisierungskosten von bis zu 75 Milliarden Pfund über die nächsten 30 Jahre dürfte es sich hier doch um eine längerfristige Festlegung handeln.

Auch Frankreich modernisiert alle Komponenten seiner Atommacht. Bereits 2010 soll eine neue Atomrakete auf französischen U-Booten stationiert werden, die mit 6.000 Kilometern eine wesentlich größere Reichweite haben wird als das gegenwärtige Modell. Im Januar letzten Jahres begründete Präsident Jacques Chirac während eines Besuchs der Flotte das Programm. Die Force de Frappe diene nicht nur dem Schutz vitaler Interessen Frankreichs, so der Präsident, sondern schrecke auch Schurkenstaaten ab. Chirac warnte:

"Staatschefs, die eventuell auf terroristische Mittel gegen uns zurückgreifen, genau wie diejenigen, die es in Betracht ziehen, Massenvernichtungswaffen zu benutzen, (müssen) verstehen, dass sie sich einer strengen und angemessenen Reaktion von unserer Seite aussetzen. Diese Reaktion kann konventionell sein. Sie kann aber auch anderer Natur sein."

Große Teile von Russlands nuklearer Infrastruktur sind seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zerfallen oder befinden sich in anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Moskau modernisiert seine Nuklearwaffen daher nur langsam, tut dies aber stetig. Von der neuen, hochpräzisen Topol-M Interkontinentalrakete werden jährlich weniger als 10 in Dienst gestellt. Die Armeeführung plant aber, dass die Waffe das Rückgrat des russischen Atomwaffenarsenals bilden soll. Dabei ist die Gefahr des Wiederauflebens eines Rüstungswettlaufs zwischen Ost und West noch nicht gebannt, wie die russische Reaktion auf die amerikanischen Raketenabwehrpläne zeigt.

Nukleare Modernisierung behindert diplomatische Abrüstungs- und Nichtverbreitungsbemühungen. Der Teststopp-Vertrag kann seit elf Jahren nicht in Kraft treten, weil sich einige Atomwaffenstaaten die Option offen halten wollen, modernisierte Kernwaffen auch zu testen.

Insbesondere die USA sind nicht bereit, dauerhafte, niedrigere Obergrenzen ihres Atomwaffenarsenals zu akzeptieren. In fünf Jahren laufen die Rüstungskontrollabkommen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten aus. Dann wären beide Seiten frei, wieder aufzurüsten. Zwar haben die Russen Interesse an einem Folgeabkommen geäußert, aber die USA winken ab.

So wächst bei vielen Mitgliedern des Atomwaffensperrvertrags der Eindruck, von den Kernwaffenbesitzern getäuscht worden zu sein. Während sie dauerhaft auf Atomwaffen verzichtet haben, verfeinern die Atomwaffenstaaten ihre Arsenale. Eine solche Zweiklassengesellschaft kann auf Dauer nicht Bestand haben. Der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan warnte auf der letzten Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages im Mai 2005, dass Verträge nicht wegen der Vergehen einzelner Staaten scheitern. Abkommen scheitern, so Annan, "wenn die Lücke zwischen Versprechen und deren Umsetzung unüberbrückbar wird."


 

Dr Oliver Meier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg und Berliner Repräsentant der Arms Control Asssociation (www.armscontrol.org)