Wieder ein Startversuch

Otfried Nassauer

Die Zahlen sind eindrucksvoll: Die USA und Russland wollen ihre nuklearen Sprengköpfe in den nächsten zehn Jahren jeweils um 6000 Stück reduzieren. Aber mindestens so interessant ist das, was in dem neuen Abkommen nicht geregelt wird. Und das ist das meiste.

Es ist beschlossen und verkündet. Die Präsidenten George W. Bush und Wladimir Putin haben am Freitag in Moskau einen neuen Rüstungskontrollvertrag unterzeichnet. Beide verpflichten sich, ihre strategischen Atomwaffen binnen zehn Jahren auf einen aktiven Bestand von je 1700 bis 2200 Sprengköpfen zu reduzieren. Der Abrüstungsprozess geht weiter – könnte man meinen. Aber ganz so einfach liegen die Dinge nicht.

Ganze zwei bis drei Seiten umfasst das neue Abkommen, den meisten Platz frisst die Präambel. Interessant ist, was alles nicht geregelt wird. Was geschieht mit den außer Dienst gestellten Trägersystemen? Moskau und Washington können es je für sich entscheiden. Das Gleiche gilt für Sprengköpfe. Ob sie demontiert, langfristig eingelagert oder zur schnellen atomaren Wiederaufrüstung bevorratet werden, bleibt den Vertragspartnern überlassen. Jede Seite kann den Vertrag binnen 90 Tagen einseitig kündigen. Über Verifikations- und Transparenzregeln zur Überprüfung der Vertragstreue konnte keine Einigung erzielt werden – diese sollen nach Inkrafttreten des Vertrages in einer gemeinsamen Kommission entwickelt werden. Der Vertrag hat eine Laufzeit von zehn Jahren. Danach kann er verlängert werden – oder auch nicht. Unklar ist, was mit den Regelungen des Start-I-Vertrages 2009 passiert, wenn dieser abläuft. Das umstrittene Thema Raketenabwehr – der Vertrag enthält keine Begrenzungen.

So viel Flexibilität und Freiheiten gestehen sich Washington und Moskau erstmals in einem Rüstungskontrollvertrag zu. Hier setzten sich die USA durch. Ihr Interesse ist es, so wenig wie möglich rechtlich verbindlich zu regeln. Wissend, dass Russland aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage absehbar kaum in der Lage ist, die ihm zugestandenen Obergrenzen zu nutzen, drängt vor allem das Pentagon darauf, für die Weiterentwicklung des amerikanischen Nuklearpotenzials oder gar dessen künftige Wiederaufrüstung flexibel zu bleiben. Washington kann und wird einige Tausend Nuklearwaffen über die vereinbarten Obergrenzen hinaus in Reserve halten. Das einzige Zugeständnis an Moskau ist, einen rechtlich bindenden Vertrag abzuschließen. Putins Motto lautete wohl: „Besser überhaupt einen Vertrag als gar keinen.“ Dieser entspricht etwa den Zielsetzungen für Start III, diese werden aber teilweise später erreicht. Letztlich bleibt die neue Vereinbarung teilweise deutlich dahinter zurück. So war bereits vereinbart zu prüfen, ob die Demontage nuklearer Sprengköpfe oder die Einbeziehung taktischer Atomwaffen in Start III möglich wäre. Davon ist keine Rede mehr. Unklar ist, was mit den Regeln des nie in Kraft getretenen Start-II-Vertrages passiert: Gilt er nicht mehr, so darf Russland die Lebensdauer seiner SS-18 Raketen mit je zehn Sprengköpfen verlängern und etliche im Dienst halten. Start II sah vor, sie zu verschrotten.

Das neue Abkommen spiegelt das veränderte Verhältnis Washingtons zu Abrüstung und Rüstungskontrolle wider. Nach achtzehnmonatiger Amtszeit hat die neue US-Administration deutliche Zeichen gesetzt: Mit vertraglich vereinbarter Rüstungskontrolle und Abrüstung hat sie kaum etwas am Hut. Rüstungskontrolle ist ein Feld für den Kahlschlag im Paragraphenwäldchen. Die USA möchten sich von bindenden Abkommen und vertraglichen Fesseln befreien. Eine systematische Deregulierung der internationalen Beziehungen als Mittel, die Flexibilität des Stärkeren, das heißt der USA, zu verbessern, greift um sich. Die Konfliktlinie in der US-Administration verläuft heute nicht mehr primär zwischen denen, die Rüstungskontrolle befürworten und jenen, die sie skeptisch sehen. Sie verläuft vielmehr zwischen jenen, die praktisch jeden Rüstungskontrollvertrag ablehnen und denen, die im Einzelfall prüfen wollen, welche Vereinbarungen im nationalen Interesse erhaltenswert sind und welche nicht.

Die Zwischenbilanz ist ernüchternd: Der ABM-Vertrag wurde gekündigt und mit ihm entfallen auch viele Begrenzungen für eine künftige Militarisierung des Weltraums. Die Unterschrift der USA unter die Konvention des internationalen Strafgerichtshofs ist zurückgezogen. Ersatzlos aufgegeben wurden Verhandlungen über ein Verifikationsprotokoll, mit dem das Verbotsabkommen für biologische Waffen wirksamer gemacht werden sollte. Verhindert wurde, dass im Juli 2001 bei der ersten UN-Konferenz über den illegalen Handel mit Kleinwaffen ein sehr begrenztes, aber sinnvolles Aktionsprogramm zur Begrenzung des Kleinwaffenhandels verabschiedet werden konnte. Zurückgezogen wurde die Zusage der Regierung Clinton, bis 2006 auf Antipersonenminen zu verzichten und dem Ottawa-Vertrag über ein Verbot dieser Waffen beizutreten. Damit nicht genug, die nächsten Schritte sind absehbar: Auf Wunsch des Pentagons wird geprüft, ob die USA ihre Unterschrift unter den CTBT, den nuklearen Teststopp-Vertrag, zurückziehen. Das Verteidigungsministerium meint, er behindere die Entwicklung neuer Atomwaffen. Im Energieministerium wird die Vorbereitungszeit für die Wiederaufnahme atomarer Tests verkürzt. Es ist damit zu rechnen, dass auch der Weltraumvertrag in Frage gestellt wird. Er behindert die Weltraumrüstungspläne der USA.

Die Liste ist lang und könnte fast beliebig fortgesetzt werden. Washington möchte auch in anderen Bereichen, zum Beispiel beim Klimaschutz, eine Deregulierung der internationalen Beziehungen. Manche in den Washingtoner Amtsstuben würden gar am liebsten die Wiener Konvention über internationale Verträge durch Widerruf der US-Unterschrift aus dem Verkehr ziehen. Diese fordert von den Signatarstaaten eines Abkommens, das noch nicht ratifiziert ist, sich so zu verhalten als sei der Vertrag bereits in Kraft. Salt II und Start II traten nie in Kraft und wurden deshalb trotzdem eingehalten.

Würden die USA sich von der Konvention verabschieden, so stünden auf einen Schlag eine Vielzahl von Abkommen in Frage: Der CTBT, der KSE2-Vertrag über Konventionelle Stabilität in Europa oder die Zusatzprotokolle der Genfer Konvention zur Begrenzung inhumaner Kriegführung.

Richard Haass, Direktor für Politische Planung im Außenministerium, verwahrte sich gegen Kritik, die Politik der USA sei Unilateralismus. „Was Sie von dieser Administration erwarten dürfen, ist Multilateralismus à la carte. Wir werden uns jedes Abkommen einzeln anschauen und eine Entscheidung treffen." Das Ergebnis der bisherigen Einzelfallentscheidungen ist bildlich gesprochen eine Schneise der Verwüstung in der Rüstungskontroll-Landschaft. Daran ändert sich nichts, weil die Regierung Bush erstmals einen Rüstungskontrollvertrag unterzeichnet. In ihm steht nichts, das Washington beeinträchtigen, aber vieles, das für einen weiteren Abbau von Rüstungskontrollregeln genutzt werden kann.

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).