Tagesspiegel
14. Juli 2002

 

Auf Kommando

  Otfried Nassauer

Der amerikanische Traum von der eigenen Unverwundbarkeit ist ausgeträumt. Deshalb wollen die USA ihre Unabhängigkeit stärken. Der Boykott des Internationalen Strafgerichtshofs ist dafür ein Beispiel. Jetzt werden die Streitkräfte neu organisiert. Die Nato betrachtet das mit Sorge.

Am 1. Oktober 2002 wird die Welt aufgeteilt – aufgeteilt unter den militärischen Oberkommandos der Vereinigten Staaten. Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es kein Fleckchen Erde mehr, für das nicht eines der regionalen Kommandos der USA zuständig ist – auch nicht in der Antarktis. Schon darin spiegelt sich das veränderte Selbstverständnis Washingtons als einzige nach dem Kalten Krieg verbliebene Supermacht. Es spiegelt sich aber auch eine veränderte Bedrohungs- und Risikowahrnehmung. Gefahr für die Supermacht kann überall lauern.

Am 1. Oktober 2002 entsteht ein neues Machtzentrum in der amerikanischen Militärbürokratie – ein Oberkommando, dem Frühwarnsysteme und Satelliten, Raketenabwehrsysteme und strategische Angriffsraketen, die Mittel für konventionelle und nukleare Angriffsoperationen unterstellt werden. Washington plant eine integrierte Kommandozentrale für – auch präventive – strategische Angriffe, strategische Vergeltungsangriffe und strategische Verteidigung. Dieses Oberkommando wird damit zum Symbol für ein neues, zweites, sehr anderes Zeitalter und Verständnis der Abschreckung.

Das ist, kurzgefasst, das Ergebnis der jüngsten Überprüfung des "Unified Command Plans", ein Dokument, das alle zwei bis drei Jahre überarbeitet und vom US-Präsidenten gebilligt wird. Es beschreibt die Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der wichtigsten militärischen Kommandobehörden der USA: Der regionalen Oberkommandos mit ihren geographischen Zuständigkeiten und der funktionalen Oberkommandos für die spezifischen Fachaufgaben. Am 1. Oktober soll der Plan in Kraft treten. Er beinhaltet gravierende Veränderungen – gerade auch für Europa und die Nato.


Elementare Erfahrung

Erstmals wird ein Oberkommando zur Verteidigung Nordamerikas (NORTHCOM) eingerichtet. Geographisch zuständig ist es von Mexiko bis nach Alaska. Hinzu kommen Seegebiete, die je 500 Meilen weit in Pazifik und Atlantik hineinreichen, sowie Teile der Karibik einschließlich Kubas. Deutlicher kann die elementare, neue Erfahrung des 11. Septembers ihren Ausdruck militärisch nicht finden: Ein alter Traum, der von der Unverwundbarkeit der USA, ist ausgeträumt.

Erweitert wird die Zuständigkeit des Oberkommandos Europa (EUCOM). Bislang umfasste es Europa, Afrika außer Nordostafrika, Israel, Syrien und den Libanon sowie die Staaten südlich des Kaukasus und Teile des Atlantiks. Hinzu kommen jetzt der restliche Nordatlantik, große Teile des Südatlantiks und vor allem Russland. Russland fällt damit zum ersten Mal in den Zuständigkeitsbereich eines regionalen Oberkommandos. Eine Zuordnung, die deutlich wiederspiegelt, dass Washington Moskau weder länger als Supermacht betrachtet, noch in Russland primär einen Feindstaat sieht.

Größer wird auch der Zuständigkeitsbereich des Pazifischen Oberkommandos (PACOM). Indien, Südostasien, China, Japan und Australien gehörten schon lange dazu. Jetzt kommt die Antarktis hinzu. Diese blieb bislang – auch als Folge des Antarktisvertrages - aus der Zuständigkeit aller regionalen Oberkommandos ausgeklammert. Unverändert bleiben das Southern Command (SOUTHCOM) mit Zuständigkeit für Mittel- und Südamerika sowie das Central Command (CENTCOM) mit seiner Zuständigkeit für Nordostafrika, den Persischen Golf, Zentralasien und Pakistan, jene Regionen, die den Hauptteil der Ressourcen an fossilen Energieträgern beherbergen. Asien bleibt unverändert auf zwei regionale Oberkommandos aufgeteilt. Hier sieht Washington das größte Risiko des Entstehens neuer Krisen und Konflikte.


Weitreichende Zuständigkeiten

Nur kleinere Veränderungen wurden zunächst für die funktionalen Oberkommandos verkündet. Das erst 1999 eingerichtete Joint Forces Command (JFC) gibt seine Zuständigkeit für den Atlantik ab, ebenso die Zuständigkeit für die Verteidigung Nordamerikas, mit der es nach dem 11. September betraut wurde. Es soll künftig als Spezialkommando für Zukunftskonzepte und teilstreitkraftübergreifende Operationen dienen. Unverändert bleiben die Aufgaben des Kommandos der Spezialkräfte (SOCOM) und des Transportkommandos (TRANSCOM).

Ende Juni fällte Washington eine weitere Entscheidung. Zwei der wichtigsten funktionalen Oberkommandos werden zusammengelegt – das Weltraumkommando (SPACECOM), mittlerweile auch zuständig für die Informationskriegsführung und das Oberkommando der Strategischen Streitkräfte, (STRATCOM).

Das neue strategische Oberkommando hat weitreichende Zuständigkeiten. Hier werden alle militärischen Elemente der neuen strategischen Triade, des strategischen Instrumentariums der USA, unter einem Dach zusammengefasst: Die Kontrolle über Satellitensysteme, die Frühwarnung und die Raketenabwehr und die Verantwortlichkeit für konventionelle wie nukleare Angriffsoperationen großer Reichweite. Was sich zunächst als Verschlankung der Befehlsstrukturen darstellt, ist zugleich ein neues, starkes Machtzentrum, das künftig die Militärpolitik der USA ebenso entscheidend mitprägen wird wie den Streit ums Geld.

Mit diesem Kommando wird einer der entscheidenden und umstrittenen Grundgedanken der Überprüfung der Nuklearstrategie und -streitkräfte der USA, des Nuclear Posture Review, umgesetzt. Als strategisch erachtete Bedrohungen der USA – wie zum Beispiel durch Staaten oder nichtstaatliche Akteure, die über Massenvernichtungswaffen verfügen – sollen künftig von einem einzigen, mit allen Kompetenzen ausgestatteten Kommando bearbeitet werden, dem eine möglichst breite, flexible Palette an Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung steht. Es soll alle Abwehrmaßnahmen koordinieren und durchführen und zugleich Vergeltungsangriffe mit konventionellen wie nuklearen Waffen planen können. Mehr noch: Es soll auch zu "defensiven Interventionen" befähigt sein, ein Euphemismus für präventive Angriffe. Vereinfacht: Washington will zuschlagen können, bevor es getroffen wird.


Das letzte Mittel

Natürlich, so argumentiert die Regierung Bush seien Nuklearwaffen das letzte Mittel. Gerade deshalb sei es so wichtig, dass ein Oberkommando zuständig sei und zwischen konventionellen und nuklearen Möglichkeiten abwägen könne. Doch während die Regierung argumentiert, dies verringere die Wahrscheinlichkeit, dass nukleare Waffen zum Einsatz kämen, sehen das deren Kritiker genau umgekehrt: Der Unterschied zwischen konventionellen und nuklearen Operationen werde verwischt. Nukleare Waffen würden zu "normalen" Instrumenten der Kriegführung und damit steige die Wahrscheinlichkeit, dass sie – weil wirksamer – eingesetzt würden. Bis zu 2200 strategische Atomwaffen in den Streitkräften und 2400 reaktivierbare Reservesprengköpfe wollen die USA auch nach dem neuen Rüstungskontrollabkommen mit Russland behalten.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).