Pax Christi
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Zeit der Entscheidungen – Auf dem Wege zu einer neuen NATO-Strategie *

Otfried Nassauer

Der Countdown läuft. Bis zu ihrem 50. Geburtstag – gefeiert wird von 23. bis 25. April in Washington – will die NATO ihre Strategie überarbeitet haben. Einfach ist die Aufgabe nicht. Das Bündnis steht vor einer Reihe entscheidender Weichenstellungen. Der Charakter der Allianz steht zur Disposition. Weitreichende Veränderungen sind angekündigt. Wird die oft angekündigte ›Neue NATO‹ Wirklichkeit oder bleibt die Allianz ganz die Alte? (…)

Im Kern stehen unter anderem die folgenden Fragen zur Entscheidung an:

  • Versteht sich die NATO vorrangig als Militärbündnis, das nach Wegfall einer direkten militärischen Bedrohung das Territorium seiner Mitgliedstaaten sichert und deren Interessen durchsetzt? Oder will sich die Allianz vorrangig zu einer politischen Organisation entwickeln, deren Aufgabe es ist, nach vollzogener Selbsttransformation den Aufbau eines Systems kooperativer und kollektiver Sicherheit in Europa voranzutreiben und die dafür erforderlichen stabilen Rahmenbedingungen abzusichern?

  • Sind die Aufgaben der NATO geographisch begrenzt und wenn ja, wie? Soll die NATO Sicherheit innerhalb des Bündnisgebietes und gegen Angriffe auf dieses gewährleisten? Oder soll sie dies auch in angrenzenden Regionen, z. B. dem Mittelmeerraum, tun? Oder gar weltweit im Dienste der Interessen ihrer Mitgliedstaaten tätig werden?

  • Soll die Allianz militärische Einsätze, die nicht der Selbstverteidigung dienen, grundsätzlich von einem Mandat der internationalen Staatengemeinschaft, also der UNO oder der OSZE, abhängig machen? Oder sich das Recht vorbehalten, auch dann militärisch zu intervenieren, wenn ein solches Mandat nicht vorliegt?

  • Soll die Rolle nuklearer Waffen in der Allianzstrategie weiter reduziert werden? Oder diesen Waffen durch die Zuweisung neuer Aufgaben neue Legitimation zugewiesen werden? (…)

  • Wie viele und welche Vorgaben soll die neue Allianzstrategie den Mitgliedstaaten im Blick auf deren künftige Verteidigungsausgaben, Streitkräftestrukturen und zukünftige technologische Fähigkeiten ihrer Streitkräfte machen?

 

Schließlich entstand durch eine in wachsendem Maße unilateralistische Politik der USA – immer offensichtlicher ausgerichtet an deren nationalen Interessen – eine weitere Frage von zentraler Bedeutung:

Wie soll sich das Kräfteverhältnis innerhalb des Bündnisses weiterentwickeln? Sollen die europäischen NATO-Staaten längerfristig auf eigene militärische Handlungsfähigkeit zielen oder diese Fähigkeit vorrangig im Rahmen und unter Kontrolle der USA in der NATO implementiert werden? Einige Beispiele für die Politik Washingtons aus den letzten Monaten:

  • Mit den militärischen Angriffen auf Ziele in Afghanistan und im Sudan haben die USA den Willen bekundet, das völkerrechtliche Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen von Staaten auch dann zu mißachten, wenn der Grund des Angriffs nichtstaatliche Akteure sind, die in diesen Staaten agieren.

  • Mit der Entscheidung, Restjugoslawien wegen der brutalen Menschenrechtsverletzungen im Kosovo auch ohne UN- oder OSZE-Mandat Luftwaffenschläge anzudrohen, haben die USA und in deren Gefolge die anderen NATO-Staaten das »Präjudiz« (Burkhard Hirsch) für eine Politik nicht durch die UNO oder die OSZE mandatierter Interventionen der NATO geschaffen. Ein solcher Beschluß und erst recht der mittlerweile erfolgte Militärschlag sind – nach Meinung fast aller Völkerrechtler – klar rechtswidrig. Das Recht des Stärkeren wird über die Stärkung des Rechts gestellt, dessen Funktion es ja auch ist, den Schwachen vor dem übermächtigen Starken zu schützen.

  • Mit den Militärschlägen gegen den Irak wurden nicht nur Ziele in diesem Land zerstört, sondern vor allem auch die Hoffnung, Rußland werde – wie geplant – noch vor Jahresende den START-II-Vertrag ratifizieren und damit den Weg zu weiteren Abrüstungsschritten freimachen.

  • Mit der Ankündigung, bis 2005 ein nationales Raketenabwehrsystem zu stationieren, signalisieren die USA, daß sie bereit sind, auch bilaterale Abkommen mit Rußland aufzugeben, wenn diese Rüstungsvorhaben der USA behindern.

  • Mit der Entscheidung, in den kommenden 6 Jahren den US-Verteidigungshaushalt um 110 Mrd. Dollar zu erhöhen, signalisiert die stärkste Militärmacht der Welt, daß künftig wieder aufgerüstet wird – vor allem technologisch und qualitativ. Eine Trendwende wird eingeleitet, der sich die anderen NATO-Staaten anschließen sollen. (…)


All diese Beispiele verdeutlichen vier wesentliche Tendenzen.

1.Die USA stellen klar, daß sie nicht länger gewillt sind, Rußland als gleichberechtigten Partner zu behandeln. Sie setzen darauf, die einzige Supermacht zu sein, alleine als Weltordnungsmacht zu fungieren. Die von Präsident Bush verkündete »strategische Partnerschaft« gilt nicht länger. Rußland wird nurmehr als Regionalmacht betrachtet. Aus Sicht der USA bedarf es nicht länger der gezielten Rücksicht auf Rußlands Interessen.

2.Das Verhältnis der USA zu multilateralen Institutionen und Instrumenten verändert sich. Diese werden gestützt, solange sich ihre Haltung und Politik als Unterstützung in die Interessenlage der USA einpassen läßt, andernfalls werden sie notfalls auch gezielt geschwächt. Die Vereinten Nationen mußten dies sowohl hinsichtlich des Kosovo als auch im Blick auf den Irak erfahren. Die OSZE wartet bis heute auf eine Festlegung ihrer Rolle in der künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur.

3.Die USA haben eine Renaissance klassischer, am nationalen Interesse ausgerichteter Machtpolitik eingeleitet, die sich nicht zuletzt auf das Machtmittel Militär stützt. Dies impliziert – gerade wegen der dominanten Rolle der USA – eine deutliche Gefahr zur Militarisierung der internationalen Beziehungen.

4.Auch das Verhältnis der USA zu befreundeten Staaten und Bündnispartnern, z. B. in der NATO, ist von diesen Entwicklungen betroffen. Diese sollen nicht nur den Führungsanspruch der USA akzeptieren. Sie sollen ihn gemeinsam mit den USA umsetzen. (…)

Vor Jahren bereits stellte der us-amerikanische Senator Richard Lugar mit diesen Worten die Leitfrage für die heutige Diskussion. Washington drängt seine europäischen Verbündeten, die NATO künftig als Bündnis zur Durchsetzung von Interessen zu verstehen. Die Allianz soll möglichst ohne geographische Begrenzung militärisch handlungsfähig werden. Die erst 1994 geschaffene Möglichkeit, von der UNO oder der OSZE autorisierte, friedensunterstützende militärische Interventionen durchzuführen, soll von der Voraussetzung eines Mandates der internationalen Völkergemeinschaft entkoppelt werden. Ein Beschluß der NATO-Staaten soll künftig ausreichen. Auch dies gab Washington seinen Bündnispartnern früh zu bedenken. Bereits 1993 formulierte ein brisantes Papier aus der US-Botschaft bei der NATO: »With the UN whenever possible, without it whenever necessary«.

Die meisten europäischen Staaten sehen im Gegensatz zu den USA in der NATO allenfalls ein regionales Ordnungs- und Interventionsinstrument, nicht aber einen globalen Akteur. Um dies zu verdeutlichen, habe die NATO zu den amerikanisch-britischen Angriffen auf den Irak keine Stellungnahme abgegeben. (…) Zugleich – die Zustimmung im Falle Kosovo macht dies deutlich – gibt es keine klare und eindeutige Haltung der europäischen Staaten zu nichtmandatierten NATO-Einsätzen. Ein Mandat soll in der Regel die Voraussetzung darstellen – von Fall zu Fall soll aber auch über Ausnahmen entschieden werden können. Dies riskiert, daß die Ausnahme die Regel wird und trägt zur Aushöhlung der Autorität der Vereinten Nationen bei.

(…) Der Kern des militärischen Potentials des Bündnisses soll zu einem schlagkräftigen, flexiblen, über große Entfernungen verlegbaren und großräumig einsetzbaren Interventionsinstrument umgestaltet werden. Die militärischen Kräfte sollen so bemessen sein, daß ein Regionalkrieg, größer als der Golfkrieg 1991, sowie gleichzeitig eine friedensunterstützende Maßnahme parallel und über eine längere Dauer durchgeführt werden können. Ein militärischer Grundschutz des NATO-Territoriums soll dabei gesichert bleiben. (…) Die neuen militärischen Fähigkeiten sollen mit zahlenmäßig kleineren, aber hochmodernen und flexiblen Streitkräften erreicht werden, zu denen Europa im Rahmen der Lastenteilung erheblich beitragen soll. Aus Sicht der USA stehen die europäischen NATO-Staaten deshalb vor der Aufgabe, die technologische Modernisierung ihrer Streitkräfte nachzuholen und in erheblichem Umfang zu investieren. (…)

Die begrenztere europäische Vorstellung von den künftigen Aufgaben der NATO drückt sich natürlich auch in geringeren Forderungen an die Leistungsfähigkeit der NATO-Streitkräfte aus. Die europäischen Staaten wollen zwar den Zug der technologischen Revolution im Militärischen nicht verpassen – zugleich aber gibt es Widerstände gegen den dann notwendigen Übergang zu Berufsstreitkräften sowie gegen die amerikanischen Bemühungen, über die Ausstattung der Streitkräfte deren Funktion mitzubestimmen. Hinzu kommt, daß in Europa die US-Forderungen auch als Marketinginitiative für Rüstungsstechnologie der USA verstanden werden. (…)

Umstritten ist vor allem auch die künftige Rolle nuklearer Waffen im Bündnis. Gereizt bis scharf reagierte die Clinton-Administration, als Bundesaußenminister Joschka Fischer die begrenzte Frage aufwarf, ob die NATO künftig auf die Möglichkeit zu einem Ersteinsatz nuklearer Waffen verzichten solle. US-Verteidigungsminister Cohen erklärte, daß Washington in dieser Option ein unverzichtbares Mittel der Abschreckung gegen alle Besitzer von Massenvernichtungswaffen sehe. Cohens Position machte deutlich: Erstens erwarten die USA von der NATO, daß sie die nukleare Abschreckung und gegebenenfalls auch die Bekämpfung der Besitzer atomarer, biologischer und chemischer Waffen als Aufgabe der NATO sieht – auch wenn dies in der bisherigen NATO-Strategie nicht vorgesehen ist. Zweitens wurde deutlich, daß – ähnlich wie im Bereich der konventionellen Streitkräfte – eine Ausweitung des Aufgabenspektrums der NATO auf potentielle Gegner aus dem Süden erfolgen soll.

Die meisten der nichtnuklearen europäischen Staaten schauen dagegen besorgt auf die Perspektiven nuklearer Abrüstung und nuklearer Nichtverbreitung. Sie glauben, daß die Rolle nuklearer Waffen in der NATO weiter reduziert werden kann. Diese Waffen werden als letztes Mittel der Abschreckung erachtet – vielleicht gar in jenem Sinne und Kontext, den der Internationale Gerichtshof allein nicht als illegal bezeichnen wollte: den Fall einer existentiellen Bedrohung eines Staates. Diese veränderte Haltung der europäischen NATO-Staaten spiegelte sich sowohl in ihrem Abstimmungsverhalten zur Resolution der New Agenda Coalition in den Vereinten Nationen als auch jüngst in einem Vorschlag von fünf europäischen Staaten bei der Genfer Abrüstungskonferenz. Für sie kommt eine Funktion nuklearer Waffen im Rahmen offensiver Counterproliferation nicht in Frage – noch weniger amerikanische Überlegungen, den Nuklearwaffeneinsatz auch gegenüber nichtstaatlichen Akteuren offenzuhalten.

(…) Auch die Befürworter der NATO-Osterweiterung können nicht sagen, welche Staaten dem Bündnis in Zukunft endgültig angehören sollen. Sie sind tief gespalten. Manche, vor allem jene, die in der NATO ein kollektives Verteidigungssystem sehen, sind der festen Überzeugung, daß die Allianz nicht mehr substantiell erweitert werden darf. Andere, die die NATO auf dem Wege der Transformation zu einem europäischen kooperativen und kollektiven Sicherheitssystem sehen, wollen auch den Beitritt Rußlands zur NATO nicht auf alle Zeiten ausschließen.

Das Ergebnis könnte höchst brisant sein: Die seitens der USA gewünschte, weltweit militärisch aktive NATO wird parallel zu einer NATO entwickelt, die Rußland zwar nicht aktiv ausgrenzt, Sicherheit aber doch eher gegen Rußland als mit Rußland gestaltet und Moskau zur Wahl einer neuen Politik der Selbstisolation und eingeschränkten Konfrontation veranlaßt. (…)

Eines kann als sicher gelten: Die neue NATO wird nicht die alte sein. Ob die neue NATO dagegen eine bessere sein wird als die alte – das kann mit Fug und Recht angezweifelt werden. Auch wenn es in wesentlichen Fragen zu einem Kompromiß zwischen den Wünschen der USA und zurückhaltenderen Positionen in Europa kommt, hinter manches, das den Europäern nicht schmeckt, gibt es schon heute kaum mehr ein Zurück. Ein Beispiel: Auch wenn es den USA nicht gelingen sollte, nicht durch UNO oder OSZE mandatierte militärische Einsätze zu einer explizit erwähnten Handlungsoption der neuen Allianzstrategie zu machen, so dürften solche Einsätze doch künftig immer wieder seitens der USA eingefordert werden: Unter Verweis auf das ›Präjudiz‹ des Beschlusses zu potentiellen unmandatierten NATO-Luftschlägen gegen Restjugoslawien in der Kosovo-Krise werden die USA solche Einsätze auch dann für legitim halten, wenn die neue NATO-Strategie dazu nichts aussagt. (…)

 

* ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Sein Beitrag für die Pax-Christi-Zeitschrift entstand vor den NATO-Bombardements.