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Ausgabe 2/09


60 Jahre NATO: „Change? – No we can’t“

von Otfried Nassauer

Der Berg hat gekreist. Der Gipfel zum 60. Geburtstag der NATO hat Felsbrocken geboren, die für die Sicherheitspolitik in Europa zu substantiellen Hindernissen werden können. „Change ? – No we can’t“ so könnte die Überschrift über die Gipfeldokumente lauten. Obwohl die Feier für die Öffentlichkeit ganz im Zeichen des Hoffnungsträgers Barack Obama und seiner Vision seiner neuen Politik der ausgestreckten Hand stand.

Oft trügt der Schein. So auch beim Gipfel der NATO anlässlich des 60. Geburtstags des Bündnisses in Straßburg und Kehl. Große, symbolträchtige Gesten lieferten die Bilder. Frankreich kehrt in die NATO-Militärstruktur zurück, neue Mitglieder wurden aufgenommen und ein Spaziergang über die Europabrücke in Kehl diente als Symbol für die Aussöhnung der früheren Erzfeinde Frankreich und Deutschland. Mit einer prägnanten Gipfelerklärung wollte die Allianz an ihre überragende Bedeutung in der Vergangenheit erinnern und zugleich eine ähnlich wichtige Rolle für die Zukunft beanspruchen. Ein neuer Generalsekretär und der Auftrag, eine neue Strategie für das Bündnis auszuarbeiten, sollten diesen Anspruch untermauern. Und natürlich herrschte gespannte Erwartung: Es war der erste Auftritt des neuen US-Präsidenten, Barack Obama vor der NATO.

Obama erfüllte die ihn gesetzten Erwartungen. Er präsentierte sich als bereitwilliger Zuhörer, versprach verstärkte Konsultationen mit den europäischen NATO-Staaten, mehr gemeinsame und weniger einsame Entscheidungen. Er verzichtete auf konkrete Forderungen nach mehr europäischen Truppen für Afghanistan und brachte so niemanden in die Bredouille. Mehr noch: Er überraschte mit der Ankündigung, die Vision einer atomwaffenfreien Welt wiederbeleben und rasch deutliche atomare Abrüstungsschritte mit Russland vereinbaren zu wollen. Seinen Worten ließ Obama bald darauf konkrete Schritte folgen, die das gespannte Verhältnis der USA zu Russland entkrampfen und neue Abrüstungsvereinbarungen erleichtern sollen. Obama wollte Zeichen des außenpolitischen Wandels setzen und er setzte sie. Im Blick auf die NATO, im Blick auf Russland und jenseits des NATO-Gipfels sogar im Blick auf den Iran.

Doch Erwartungen, die NATO werde sich von den neuen Tönen aus Washington anstecken lassen, waren fehl am Platz. Die Allianz präsentierte sich als Bewahrerin des Vermächtnisses von George W. Bush. Symptomatisch dafür sind die verabschiedeten Gipfeldokumente. Sie lesen sich in vielen Passagen, als habe in den USA kein oder sogar ein gefährlicher Regierungswechsel stattgefunden. Ausgewählte Beispiele:

  • Im Blick auf Rüstungskontrolle und Abrüstung verspricht die NATO eine aktivere Öffentlichkeitsarbeit, um die Aktivitäten der eigenen Mitglieder zu loben, aber keinen Aktionsplan zur Wiederbelebung dieses Politikinstrumentes, wie Norwegen und Deutschland es wünschten. Bei Themen mit konkretem Handlungsbedarf – so zum Beispiel bei der Wiederlebung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa (KSE) - listet das Kommunique eine Vielzahl von Vorbedingungen auf, die erfüllt sein müssten, bevor Fortschritte erzielt werden können. Obamas Ankündigung zur nuklearen Abrüstung, wird begrüßt. Zugleich kontert die NATO Obamas Vision einer atomwaffenfreien Welt mit der lapidaren Feststellung, man werde für „nukleare und konventionelle Abrüstung in Übereinstimmung mit dem Atomwaffensperrvertrag werben“, eine Formel, mit der die Nuklearmächte jahrzehntelang Forderungen nach radikaler nuklearer Abrüstung zurückwiesen. Zugleich hielt das Bündnis fest, man brauche auch künftig „einen ausgewogenen Mix nuklearer und konventioneller Fähigkeiten“ zur Abschreckung. Mit dieser Formel wird die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der nuklearen Teilhabe und der in Europa stationierten substrategischen Nuklearwaffen begründet.
  • Obama’s Signale, auf Russland und dessen Interessen verstärkt zugehen und zum Beispiel die Pläne für ein US-Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien erneut überprüfen zu wollen, konterkariert die NATO. Im Kommunique wiederholt sie die Beschlüsse von Bukarest und betont ihr Festhalten an Plänen, die Machbarkeit eines ganz Europa schützenden Raketenabewehrsystems untersuchen zu wollen. Russlands Vorschlag, über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur nachzudenken, wird zwar für diskussionswürdig befunden. Zugleich wird er aber indirekt zurückgewiesen, weil der institutionelle Rahmen auf OSZE, NATO und EU beschränkt werden soll. Die russische Politik gegenüber Georgien wird ähnlich scharf und einseitig wie in Bukarest kritisiert. Russland wird vorgeworfen die Prinzipien der OSZE und der NATO-Russland-Akte verletzt zu haben. Es wird aufgefordert, seine Truppen abzuziehen. Georgiens Vorgehen wird dagegen nicht kritisiert. Im Gegenteil: Die NATO erneuert das Bukarester Versprechen, Georgien und die Ukraine in die NATO aufnehmen zu wollen. Sie verspricht zwar, die Diskussion mit Russland im NATO-Russland-Rat wiederaufnehmen zu wollen, geht aber mit keinem Wort darauf ein, die Zusammenarbeit so verbessern zu wollen, dass Russlands Interesse an diesem Gremium steigen könnte. Bislang verhindert eine NATO-interne Vereinbarung die Diskussion aller Themen, über die in der NATO noch keine Einigung erzielt wurde und erlaubt deshalb nur „Diskussionen“, bei denen Russland einheitliche Positionen der NATO zur Kenntnis gebracht werden. Das Versprechen, den NATO-Russland-Rat zu einem Gremium für gemeinsame Entscheidungen auszubauen, wurde nie eingelöst.

In den Gipfeldokumenten hat sich ein Bündnis aus amerikanischen NATO-Diplomaten der Ära Bush, konservativen NATO-Bürokraten und neuen NATO-Mitgliedern durchgesetzt, die in Russland eine latente Gefahr sehen und erfolgreich versuchten, George W. Bushs Erbe erneut festzuschreiben. Ihr Vorgehen kann man als präventive Selbstverteidigung gegen einen drohenden Wandel beschreiben. Die Gipfel-Dokumente tragen nun die Unterschrift Obamas, ein Faktum, an dass er schon bald bei Diskussionen über Einzel- und Sachfragen erinnert werden dürfte.

Eine ähnliche Handschrift tragen die Gipfeldokumente im Blick auf die künftige Ausrichtung der NATO: Die Allianz müsse „die Bereitstellung umfassend vorbereiteter und verlegbarer Streitkräfte“ sicherstellen, die „fähig sind, das volle Spektrum militärischer Operationen und Missionen durchzuführen – auf dem und über das Territorium der Allianz hinaus, an dessen Peripherie und über strategische Distanzen“. Mit solcher Deutlichkeit hat die NATO den Anspruch, ein global handelndes Militärbündnis zu sein, bislang nicht formuliert. Im Vordergrund stehen die Bekämpfung des international agierenden Terrorismus und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Doch gibt es auch Formulierungen, die auf Weiterungsmöglichkeiten hinweisen. So will die NATO prüfen, ob sie die Bekämpfung der Piraterie zu einer dauerhaften Aufgabe macht. Sie weist prophylaktisch darauf hin, dass auf Feldern wie der Energiesicherheit, des Klimawandels oder zerfallender Staaten Risiken entstehen, die ebenfalls ein globales Engagement erfordern können. Und sie erklärt ihr Interesse an einer verstärkten Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen. Würde die NATO seitens der Vereinten Nationen wie eine Regionalorganisation behandelt, so gewänne sie erheblich an Legitimation.

Barak Obamas Ankündigung, die Bekämpfung des internationalen Terrorismus in Afghanistan mit mehr Truppen, mehr Geld, verstärkten zivilen Bemühungen sowie einem umfassenden Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte zu stärken, werden von der NATO begrüßt und im Sinne einer „Surge-Strategie“ interpretiert. Die NATO deutet sogar indirekt an, dass dies eine Ausweitung ihrer Operationen auf Pakistan erfordern könne: „Die internationale Gemeinschaft zielt darauf, sicherzustellen, dass Al Kaida und andere gewalttätige Extremisten Afghanistan und Pakistan nicht als „sicheren Himmel“ nutzen können, aus dem heraus sie Terrorangriffe starten können.“

Die Grundprobleme der Allianz hat der Gipfel dagegen nicht angegangen. Es wurde weder diskutiert wie das Bündnis wieder ein Ort kollektiver sicherheitspolitischer Entscheidungen werden kann, noch darüber, ob es Sicherheit vor oder mit Russland gestalten soll oder wie das Verhältnis zwischen NATO und EU neu justiert werden kann. Der Gipfel verzichtete auf eine Diskussion über die Grenzen militärischen Krisenmanagements ebenso wie auf eine Debatte darüber, dass der Umgang mit den Risiken der Zukunft vor allem nicht-militärischer Mittel bedarf, über die die NATO nicht verfügt. Es gab keine Debatte darüber wie die NATO verlorene Glaubwürdigkeit nach innen und außen wiedergewinnen könnte oder wie sie mit dem Problem mangelnden inneren Zusammenhalts umgehen könnte.

All diese Fragen wurden vertagt und sollen zum Teil während der Erarbeitung einer neuen NATO-Strategie debattiert werden. Ob das gelingt, darf bezweifelt werden. Zum einen wird die Ausarbeitung der neuen Strategie mit diesen primär politisch zu lösenden Fragen überfrachtet. Zum zweiten soll die Expertengruppe, die die Strategie ausarbeitet, eng mit dem NATO-Rat zusammenarbeiten. Der wiederum wird von der NATO-Bürokratie beraten und bildet deshalb drittens einen Ort, an dem bürokratisches Beharrungsvermögen, die Konkurrenz nationaler Sichtweisen und das Konsensprinzip Veränderungen blockieren könnten. Zu einer Suche nach einem substantiellen Neuansatz, der zugleich auf einen neuen Konsens unter den Bündnismitgliedern über Daseinszweck und Aufgaben des Bündnisses zielt, dürfte die Arbeit an einer neuen Strategie kaum mehr geeignet sein.

Nach Straßburg gleicht die NATO einem großen Kriegerdenkmal. Nach außen ein beeindruckender Koloss, ist es innen hohl. Dort aber frisst der Rost. Er kann schon bald die Statik gefährden, doch die Entscheidung über die Alternative: Gründliche Sanierung versus Abriss wurde vertagt.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS