Freitag
23. März 2001

ungekürzte Fassung

Hütchenspieler

Nach dem Krieg ist meistens vor dem Krieg

Otfried Nassauer

Der 23. März 1999 war ein Vorkriegsabend. Am Tag danach begann der Kosovo-Krieg. Ist der 23. März 2001 erneut der Vorabend eines Krieges? Deutlicher als mit dieser Frage - aufgeworfen durch die jüngsten Ereignisse in Mazedonien - kann es kaum werden: Die westliche Staatengemeinschaft hat kein wirksames Konzept, den Balkan zu stabilisieren und den vielen Völkern der Region eine wirtschaftliche und sicherheitspolitische Perspektive aufzuzeigen.

Dieser Vorwurf muss allen Beteiligten gelten: Der NATO mit ihrer Friedenstruppe KFOR, der Europäischen Union und ihrem Stabilitätspakt, den USA, den großen europäischen Staaten, auch der Bundesrepublik Deutschland. KFOR riskierte es nicht, die Vertreibung nicht-albanischer Minderheiten aus dem Kosovo ernsthaft zu unterbinden oder die UÇK wirklich zu entwaffnen - nicht zuletzt, weil die Kämpfer für den Einsatz gegen Serbien oft von westlichen Spezialkräften und Beratern ausgebildet wurden.

Solange Slobodan Milos?evic´ in Belgrad herrschte, war der allein Schuldige immer wieder leicht und (vor)schnell gefunden und damit die Klammer für die Aufrechterhaltung des Minimalkonsenses vorgegeben. Seit er abgetreten wurde, bereichern viele Grautöne das einst schwarz-weiße Bild. Es wird komplexer, der Wirklichkeit angemessener. Die neue serbische Regierung zeigt sich kooperativer und eskaliert Konflikte nicht unnötig. Die UÇK und andere radikale Albanermilizen dagegen schüren militärische Konflikte in Serbien und Mazedonien. Während des Kosovo-Krieges von manchen zur Bodentruppe der NATO hochgelobt, sticheln diese Formationen heute mit den gleichen Methoden wie einst im Kosovo: Terrorangriffe, Guerilla-Übergriffe, militärische Scharmützel. Deshalb auch die alte/neue Vorkriegsbeschreibung der UÇK - als extremistische, nationalistische Gruppierung, als militante Organisation zur Verwirklichung großalbanischer Träume.

Aber wird sie auch so behandelt? Daran darf gezweifelt werden. Der Minimalkonsens der westlichen Kosovo-Politik lässt auf absehbare Zeit eine direkte militärische Bekämpfung der UÇK ebenso wenig zu wie ein direktes militärisches Eingreifen in Mazedonien.

Schon die ersten Zeichen der neuen Wirren auf dem Balkan machen deutlich, dass deutsche Politik erneut schlecht vorbereitet ist. Rudolf Scharping "lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen", Joschka Fischer zeigt Solidarität mit der mazedonischen Regierung und warnt zugleich vor übereilten Schritten. EU und NATO versprechen gemeinsam mehr zu tun - und geraten damit höchst wahrscheinlich in den nächsten "unvermeidlichen" Balkan-Krieg. Die Gefahr ist real - gerade für die deutsche Politik. Sie hat ihre politischen Interessen mit Blick auf Balkaneinsätze nie wirklich geklärt - nicht zuletzt, weil sie auf eine selbstkritische Aufarbeitung des Kosovo-Krieges verzichtete.

Innenpolitisch wurde der Krieg um das Kosovo moralisch begründet - als humanitäre Intervention zur Verhinderung eines Völkermordes. Damit einher ging fast zwangsläufig eine Dramatisierung der humanitären Lage im Kosovo. Man wollte die Unterstützung der Öffentlichkeit nicht gefährden. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Information und psychologischer Kriegführung, bewusster oder unbewusster Desinformation verschwammen bei dem Versuch der rot-grünen Bundesregierung, im Bündnis absolute Verlässlichkeit zu demonstrieren und dabei zu sein, was auch immer die NATO beschließe. "Nie wieder Auschwitz" - in dieser direkten Funktionalität wurde der Krieg ausschließlich hierzulande begründet.

Diese Haltung prägte auch die Diskussion nach dem Krieg am stärksten. Eine ernsthafte Aufarbeitung des Waffengangs und seiner Rechtfertigung fand in Deutschland bis heute nicht statt. Fast alle wichtigen politischen Akteure verweigern sich bislang dieser zwingend notwendigen politischen Debatte. Versuche, sie dennoch zu initiieren, werden erneut mit moralischen, ethischen oder gar propagandistischen Argumenten erstickt.

Der Beispiele sind viele: Jüngst die Versuche, die WDR-Dokumentation Alles begann mit einer Lüge als plumpes, völlig verqueres Machwerk, wenn nicht als bewusste Fälschung zu diffamieren. Die abstrafenden Reaktionen gegen den deutschen General Heinz Loquai, der eine kritische Analyse des Weges in den Krieg vorgelegt hatte. Und nicht zuletzt schon viel früher die offiziellen Reaktionen auf die Rambouillet-Veröffentlichungen des Journalisten Andreas Zumach, dem zunächst sachliche Unkenntnis und, als das nicht wirkte, - von höchster Stelle insinuiert - Kooperation mit serbischen Diensten unterstellt wurde.

Statt aufzuklären, aufzuarbeiten, eigenes politisches Verhalten zu reflektieren, Fehler zu suchen, politische Transparenz und Offenheit herzustellen und Lehren zu ziehen, verharren die meisten Entscheidungsträger deutscher Politik bis heute in Abwehrhaltung, Schweigen und Diskursverweigerung. Dies verwundert um so mehr, als dass sie es eigentlich aus politischer Einsicht besser wissen müssten. Und aus eigener Erfahrung: Die Geschichte des Nationalsozialismus durch öffentlichen Diskurs aufzuarbeiten, gehörte zu den wesentlichen Zielen der 68er. Deren Vertreter agieren heute oft, als wollten sie genau diese Diskursverweigerung ihrer Eltern und Großeltern kopieren.

Die Lehren, die aus dem Kosovo-Konflikt gezogen oder auch nicht gezogen werden, haben erhebliche Auswirkungen auf die künftige Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands. Frankreich, Großbritannien oder Kanada haben sich eine selbstkritische Aufarbeitung des Vorgehens ihrer eigenen Regierungen im Kosovo-Konflikt nicht erspart. Sie haben Fehler wie den Verzicht auf ein Mandat der Vereinten Nationen, die unklaren politischen Zielsetzungen für den NATO-Einsatz oder das Fehlen einer Exit-Strategie klar benannt und in Lehren für das "ob, wann und unter welchen Voraussetzungen" künftiger Streitkräfteeinsätze umzusetzen versucht. Genau dies unterblieb in Deutschland, weil der Diskurs auf moralische Scharmützel beschränkt blieb. Das Fehlen einer solchen, öffentlich vermittelbaren Denkweise kann sich nunmehr rächen - die Führungsmacht der NATO - die USA - hat eine neue Regierung. Und diese wird primär in solchen Kategorien argumentieren.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).