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Juli/August 2002

 

Venezuela: Von Putsch zu Putsch

Gerhard Piper

Die Zeit der faschistischen Militärputsche in Lateinamerika schien seit der Demokratisierung in den achtziger Jahren eigentlich vorbei zu sein. Jedoch am 12. April 2002 versuchten in Venezuela Offiziere den gewählten Präsidenten Hugo Rafael Chávez Frías zu stürzen. Aber die Militärs sind aus der Übung gekommen. Schon nach 22 Stunden scheiterte der Umsturzversuch kläglich. Damit ist die Gefahr aber längst nicht gebannt. Die "linke" Politik von Chávez und seine Freundschaft zu Fidel Castro ist der US-Regierung ein Dorn im Auge. Vor dem Hintergrund der nationalen Wirtschafts- und Sozialprobleme ist die venezolanische Gesellschaft unverrückbar in Anhänger und Gegner des Präsidenten gespalten. Genauso zerrissen sind die Streitkräfte, dennoch kann ein weiterer Putschversuch und sogar ein Bürgerkrieg nicht ausgeschlossen werden.

Die "bolivarianische Revolution" von Hugo Chávez

Der frühere Fallschirmjäger Hugo Rafael Chávez Frías kennt sich mit dem Scheitern von Putschversuchen aus. Als Oberstleutnant war er am 4. Februar 1992 selbst an dem Coup gegen Präsident Carlos Andrés Pérez beteiligt. Später versuchte Chávez dann auf legalem Wege die politische Macht zu erobern und hatte Erfolg: Am 6. Dezember 1998 erreichte er als Präsidentschaftskandidat des Movimiento Quinta República (MVR) 56,2 Prozent der Stimmen. Außerdem verfügt seine Partei im Parlament, in den Regionen und vielen Städten über die Mehrheit. Wichtigster Erfolg des "Chavismo" ist die Verabschiedung der "Bolivarianischen Verfassung" vom 30. Dezember 1999. Chávez kritisiert die nationale Oligarchie und fordert eine Umverteilung des Reichtums zu Gunsten der Armen, ohne jedoch die Pfründe der Reichen tatsächlich anzutasten. Nachdem ihn das Parlament mit Sondervollmachten ausgestattet hatte, erließ Chávez am 13. November 2001 per Dekret 49 Wirtschafts- und Sozialgesetze. So sieht das Gesetz zur Agrarreform (ley de tierras) vor, daß alle landlosen Bauern Boden erwerben sollen. Dazu ist anzumerken, es gibt in Venezuela fast keine landlosen Bauern. Außerdem dürfen die paar Begünstigten den Ackerboden zwar bestellen, aber sie erhalten dafür keine Besitzurkunde, damit sie die Parzelle nicht gleich weiterverkaufen. (1)

Venezuela ist wegen seiner Ölvorkommen im Vergleich zu anderen Staaten Lateinamerikas relativ wohlhabend; und Chávez kann auf eine positive Entwicklung des Wirtschaftswachstums in den letzten zwei Jahren zurückblicken. Andererseits war die Inflationsrate mit 13,4 im Jahre 2000 die höchste in Südamerika; hinzu kommt in den letzten Monaten durch eine massive Kapitalflucht ins Ausland. (2) Außerdem muß Venezuela heutzutage über 50 Prozent aller Konsumgüter importieren. Aus Protest gegen diese Entwicklung kam es im Dezember 2001 zu einem Generalstreik. Von Chávez ambitioniertem Reformprogramm sind bloß Versprechungen übriggeblieben. Trotz seines autokratischen Gehabes und seiner Günstlingswirtschaft, durch die zahlreiche Militärs in gesellschaftliche Führungspositionen aufstiegen, kann er sich weiterhin auf die Unterstützung durch die verarmte Bevölkerung und einem Teil des Offizierskorps verlassen, aber viele seiner früheren Anhänger hat er längst verprellt. Das "Informationszentrum Dritte Welt" erklärte dazu: "Den alt eingesessenen Eliten gilt er als Kommunist, der Linken und vor allem den Gewerkschaften hingegen als populistischer Militär." (3) Im Februar 2002 veröffentlichte die oppositionelle Tageszeitung El Nacional eine Meinungsumfrage, nach der sich 53 Prozent der Bevölkerung für einen Rücktritt Chávez ausgesprochen haben sollen. (4)

Außenpolitisch tritt Chávez in Anlehnung an den lateinamerikanischen Revolutionär Simón Bolívar für die Einheit aller Völker Lateinamerikas und den Kampf gegen jede Fremdbestimmung ein. Demgemäß pflegt Chávez auch enge Beziehungen zur kubanischen Regierung. So hat sich Venezuela am 30. Oktober 1999 im Abkommen von Caracas verpflichtet, die Zuckerinsel täglich mit bis zu 53.000 Barrel Öl zu Vorzugspreisen zu beliefern. Mit seiner Politik durchkreuzt Chávez die US-Politik der "Nuevos Horizontes": Danach soll ganz Lateinamerika in eine Freihandelszone (Asociación Latino-Americana de Libre Comercio – ALALC) umgewandelt werden, womit die USA die Dominanz über ihren "Hinterhof" auf Dauer sichern wollen. Dadurch werden gleichzeitig bestehende regionale Wirtschaftsstrukturen wie der Mercosur zerstört und der Einfluß der Europäischen Union minimiert. Nicht zuletzt wegen seiner freundschaftlichen Kontakte zu Fidel Castro, Muammar al-Gaddafi und Saddam Hussein gilt Hugo Chávez in den Augen der US-Regierung als "enfant terrible".

Vorgeschichte: Rebellion der Offiziere, Gewerkschafter und Unternehmer

Mitte Januar 2002 veröffentlichte eine Gruppe von Offizieren ein Manifiesto Militar de Caracas, in dem der Regierung von Hugo Chávez Unfähigkeit vorgeworfen wurde. Am 2. Februar 2002 folgte ein zweites Manifest, das von 3.400 Offizieren und Unteroffizieren unterschrieben war, in dem gefordert wurde, Chávez vor Gericht zu stellen. (5) Am 7. Februar 2002 begann die heiße Phase der Putschvorbereitungen: Luftwaffen-Oberst Pedro Vicente Soto Fuentes forderte den Regierungschef medienwirksam zum Rücktritt auf. Der Forderung schlossen sich zunächst zwei Angehörige der Nationalgarde (Guardia Nacional) an: Oberstleutnant Luis García Morales und Hauptmann Pedro Luis Flores. (6) Am 25. März forderte mit Konteradmiral Carlos Molina Tamayo, venezolanischer Botschafter in Griechenland, erstmals ein ranghoher Offizier öffentlich den Rücktritt von Chávez, (7) dem schloß sich am 10. April Brigadegeneral Nestor González und später General Román Gómez an. (8) Am gleichen Tag erklärte Verteidigungsminister José Vicente Rangel einen Militärputsch noch für ausgeschlossen. (9) Es sei "normal, daß auch Militärs in schwierigen Zeiten versuchen, ihrem Unmut Luft zu machen", erklärte Rangel. "Ich kenne die Armee. Ich weiß, wer in den Kasernen ist." (10) Gleichwohl wurden die Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt.

Auch außerhalb des Militärs wurden alle Vorbereitungen für einen Staatsstreich getroffen: Anlaß dafür war, daß Chávez angesichts der angespannten Wirtschaftslage am 26. Februar versuchte seine Kontrolle über den staatlichen Ölkonzern Petróleos de Venezuela Sociedad Anónima (PDVSA), der rund 86 Prozent der venezolanischen Exporteinnahmen erwirtschaftet, auszuweiten. (11) Daraufhin rief die Geschäftsführung am 15. März zum Streik gegen die Konzernpolitik der Regierung auf; so daß Chávez am 7. April sieben Vorstandmitglieder der PDVSA entließ. In der Zwischenzeit hatte der mafiöse Gewerkschaftsverband Confederación de Trabajadores de Venezuela (CTV) unter Führung des Gewerkschaftsbosses Carlos Ortega für den 9. April zu einem weiteren Generalstreik aufgerufen. In seltener Einmütigkeit mit der Gewerkschaft stimmte der Unternehmerverband Fedecámaras unter Leitung von Carlos Fernández Peréz dem Streikaufruf zu. Der Streik bildete dann den Auftakt für den Putschversuch zwei Tage später, so wie man es bereits vom Putsch in Chile 1973 her kennt.

Zuspitzung am 11. April

Trotz der zunehmenden Unruhe im Lande hatte der Vizepräsident Hauptmann Diosdado Cabello in einer Rede am 9. Februar noch behauptet, "es wird keinen Militärputsch der Streitkräfte geben". (12) Auch Präsident Chávez verhöhnte seine Kritiker innerhalb der Streitkräfte: "Es sind Individualisten. In den Reihen der Militärs gibt es niemanden der gegen die Regierung oder die Revolution ist." (13)

Einen Tag vor dem Putsch, am 11. April, versammelten sich nach unterschiedlichen Angaben 50.000 bis 200.000 Menschen in Caracas zu einer Großdemonstration. Daher sagte Regierungschef Chávez seine geplante Teilnahme an einer internationalen Konferenz in Costa Rica ab. In einer letzten öffentlichen Fernsehansprache forderte er am Nachmittag die Opposition zum "nationalen Dialog" auf und bot die Gründung einer Kommission zur Beilegung des Öl-Streites an. Während dieser Ansprache rief Gewerkschaftsboß Ortega die Bevölkerung auf, zum Präsidentenpalast Miraflores zu marschieren, damit spielte er eine herausragende Rolle bei der Auslösung des Putsches. Denn dort hatten sich bereits die Anhänger von Chávez zum Schutz der Regierung versammelt. Angeblich um eine Straßenschlacht zwischen beiden Lagern zu verhindern, hatte dort die Nationalgarde Stellung bezogen. Plötzlich fielen vor dem Präsidentenpalast Schüsse. Wahrscheinlich feuerten zuerst Scharfschützen der Putschisten auf die bewaffneten Chavisten, die das Feuer sofort erwiderten. (14) Daraufhin soll der rechtsradikale Bürgermeister von Caracas, Alfredo Pena, seine Stadtpolizei angewiesen haben, auf die Chavisten zu schießen. Neunzehn Personen wurden getötet, 180 verletzt. Vergeblich hatte Chávez versucht, die Lage zu beherrschen, indem er im Verlauf des Tages den Notstandsplan "Avila" aktivierte. Dieser war ursprünglich für den Fall von inneren Unruhen seitens der Zivilbevölkerung in Caracas entworfen worden, aber einen Alternativplan, der der Situation angemessener gewesen wäre, gab es nicht. (15)

Die inszenierte Schießerei lieferte den Putschisten den Vorwand zum Eingreifen. Eine Gruppe von zehn Generälen unter Führung von Héctor Ramírez rief Chávez zum Rücktritt auf. Andere Teile der Armee verhielten sich weiterhin loyal.

20.20 Uhr: Eine Panzerkompanie (ca. 200 Mann) aus der Kaserne Fuerte Tiuna bezog vor dem Präsidentenpalast Miraflores Stellung, um Chávez zu schützen. (16) Am Abend des 11. April besetzten die Putschisten den staatlichen Fernsehsender.
23.50 Uhr: Aus den Reihen der Politischen Polizei (Dirección de los Servicios de Inteligencia y Prevención - DISIP) heißt es, daß man die Autorität von Chávez nicht länger anerkennt. (17)

Der Putschversuch vom 12. April

In der Nacht vom 11. auf den 12. April 2002 nahmen Militärs Chávez gefangen.

1.10 Uhr: Die Presse meldete, Chávez habe sich den aufständigen Militärs, die vom Heereschef Divisionsgeneral Efraín Vásquez Velasco geführt wurden, ergeben. Chávez wurde auf dem Militärstützpunkt Fuerte Tiuna festgesetzt, dann verlegt und schließlich zur Insel Orchila verbracht. Um sein Leben zu retten, sah sich Chávez im Verlauf der Nacht genötigt, einen handschriftlichen Schmierzettel mit seiner Rücktrittserklärung anzufertigen.
3.20 Uhr: General Rincón behauptete, Chávez habe auf sein Bitten hin den Rücktritt erklärt. Noch sah alles so aus, als ginge es mit rechten Dingen zu. Daß es sich bei dem fingierten Rücktritt in Wirklichkeit um einen Staatsstreich handelte, wurde erstmals deutlich, als nicht Vizepräsident Diodado Carbello die Amtsgeschäfte übernahm. Stattdessen tauchte plötzlich der Ölmilliardär und ex-Vorsitzende des Unternehmerverbandes Fedecámaras, Pedro Carmona Estanga, auf der politischen Bühne auf.
4.51 Uhr: Carmona erklärt sich selbst zum neuen Staatspräsidenten, woraufhin ihm der katholische Erzbischof von Caracas den Segen erteilte.
17.39 Uhr: In einer ersten Deklaration versprach Carmona baldige Neuwahlen.

Einen entscheidenden Fehler machte Carmona, als zu seinen ersten "Amtshandlungen" die Auflösung des Parlamentes (Asamblea Nacional) gehörte. Dagegen protestierte nicht nur Parlamentspräsident William Lara, sondern auch einzelne Putschisten. Aus den USA meldete Philip Chicola aus dem State Department ebenfalls seine Kritik an diesem Vorgehen an. (18) Anders als in den siebziger Jahren plädiert die US-Regierung heute für "saubere Putsche", weil bei einer partiellen Aufrechterhaltung der demokratischen Ordnung eher eine politische Stabilisierung erreicht und ein Bürgerkrieg (guerra sucia) vermieden werden kann.(19)

"Gegenputsch" am 13. April

Chávez gelingt es, aus seiner Gefangenschaft einen Kassiber hinaus zu schmuggeln. Darin hieß es: "Ich, Hugo Chávez, Präsident der Bolivarianischen Republik Venezuelas, erkläre: Ich bin nicht von meiner legitimierten Macht zurück getreten, die mir das Volk gegeben hat. Für immer!" (20) Die Meldung wird in Caracas auf tausenden Flugblättern unter der Bevölkerung blitzschnell verbreitet.

12.30 Uhr: In Caracas kommt es zu ersten Massendemonstrationen der Anhänger Chávez, damit ist der Ausgang des Putsches nicht mehr nur eine Machtfrage zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb des Offizierskorps.
13.34 Uhr: General Raúl Isaías Baduel; Kommandeur der 42. Fallschirmjägerbrigade (Brigada de Infantería Paracaidista) in Maracay, erklärt seine Unterstützung für Chávez. Er organisiert den Widerstand gegen den Putschversuch innerhalb der Armee. (21) Dabei wurde er von der IV. Panzerdivision in Maracay und einzelnen Truppenteile in der Hauptstadt Caracas unterstützt. (22)
16.37 Uhr: Putschgeneral Efráin Vásquez Velasco gab öffentlich bekannt, daß die Provisorische Regierung Fehler gemacht habe. (23) Mehrere Militärs forderten, daß die Auflösung des Parlamentes rückgängig gemacht werde. Carmona stimmte dieser Forderung zu.
20.12 Uhr: Anhänger von Chávez besetzten den Fernsehsender VTV und gaben bekannt, sie würden den Präsidentenpalast Miraflores wieder kontrollieren.
22.11 Uhr: Carbello, der bisherige Stellvertreter Chávez, erklärte sich zum Interimspräsidenten. Damit hat Venezuela gleichzeitig drei Präsidenten: Chávez, Carbello und Carmona.
22.12 Uhr: Carmona erklärt seinen Rücktritt als "Präsident".

Am 14. April wurde Chávez gegen 2.50 Uhr von den Putschisten freigelassen. Er kehrte zum Präsidentenpalast zurück und übernahm seine Amtsgeschäfte als Staatspräsident, als ob nichts geschehen wäre. Schließlich hatte er als Gefangener zu seinem Machterhalt selbst nichts beitragen können. Der Putschversuch war damit gescheitert. Warum die anfangs siegreichen Putschisten aufgaben, ist nicht bekannt. Das militärische Kräfteverhältnis zwischen Freunden und Gegnern Chávez war wohl nicht ausschlaggebend; vielmehr wird vermutet, daß die Putschisten befürchteten, durch die Auflösung des Parlamentes könnte die Situation außer Kontrolle geraten und in einen Bürgerkrieg ausarten, beim dem es zu Massakern an der Zivilbevölkerung kommen würde. Auch die Kritik aus dem Ausland mag eine Rolle gespielt haben. Bei der zufällig am 13. April in Costa Rica tagenden Gipfelkonferenz der Rio-Gruppe verurteilen die Regierungschefs von Mexiko, Peru, Brasilien und Argentinien den Umsturz in Venezuela. (24) Insgesamt wurden während der Unruhen 57 Personen getötet, mehrere hundert verletzt und es entstand ein Sachschaden von 600 Mio. Dollar. (25)

Erneute Putschgefahr

Nachdem er am 8. Juni in einer Rede vor Militärs die Gefahr eines erneuten Putschversuches bestritten hatte, (26) kündigte Chávez zwölf Tage später an, im Falle eines drohenden erneuten Putschversuches, würden Millionen Bürger die bolivarianische Revolution verteidigen. (27) Am Tag darauf ließ er um den Präsidentenpalast Flugabwehrkanonen postieren. "Sie haben mich einmal überrascht, ein zweites Mal werden sie es nicht schaffen," drohte Chávez allen Putsch-Lüstlingen. (28) Manche Pessimisten befürchten gar den Beginn eines Bürgerkrieges. (29) Um dies zu vermeiden, kündigte Chávez am 29. Juni an, seine Regierung werde einen Plan zur Entwaffnung der Zivilbevölkerung ausarbeiten. In einer Anfang April durchgeführten Umfrage erklärten sich 10 % der Befragten bereit, Chávez notfalls mit Waffengewalt zu verteidigen, über 20 % wollten ihn am liebsten mit Waffengewalt stürzen. (30)

Um Zeit zu gewinnen erklärte Chávez, er überlege zur Mitte seiner jetzigen Amtszeit, am 19. August 2003, ein Referendum durchzuführen. Das Volk solle entscheiden, ob er weiter im Amt bleiben oder zurücktreten solle. (31) Auf Bitten der venezolanischen Regierung reiste der frühere US-Präsident Jimmy Carter am 7. Juli 2002 nach Venezuela, um zwischen der Regierung und den oppositionellen Kräften, die sich mittlerweile in der Coordinadora Democrática zusammengeschlossen haben, zu vermitteln. Die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisierte, daß bisher auf keiner Seite ein ernsthaftes Bemühen um Verständigung zu erkennen ist. Durch diese Polarisierung würde die politische Krise andauern, die das Land paralysiert. (32) Am 11. April 2002 forderten schätzungsweise 200.000 Demonstranten in Caracas den Rücktritt von Chávez; am 1. Juli kam es zu einer Gegendemonstration hunderttausender Chávez-Sympathisanten. (33)

"Vergangenheitsbewältigung" a la Venezuela

An dem Komplott zum Sturz von Chávez waren 350 Offiziere beteiligt, darunter 30 Generäle der Streitkräfte und 25 Generäle der Nationalgarde. (34) Nach rechtstaatlichen Prinzipien müßte jetzt die venezolanische Justiz die Putschisten ihrer verdienten Strafe zuführen. Tatsächlich wurden nur einige in Haft genommen, (35) Generalstaatsanwalt Isaías Rodríguez leitete gegen insgesamt fünf Generäle Ermittlungsverfahren ein: Divisionsgeneral Efraín Vásquez Velasco, Konteradmiral a. D. Carlos Molina Tamayo, Vizeadmiral Héctor Rafael Ramírez Pérez, Brigadegeneral Pedro Antonio Pereira Olivares und Daniel José Comisso Urdaneta. (36) Rund 40 Prozent der gesamten Generalität und Admiralität ließ Chávez feuern. (37) Zum neuen Befehlshaber der Streitkräfte ernannte Chávez den General Julio García Montoya. Das Personalrevirement erlitt einen herben Rückschlag, als am 19. April ein Hubschrauber Superpuma mit zehn hohen Offizieren in der Nähe von Caracas abstürzte. Dabei wurde u.a. der neuernannte Chef der Luftwaffe General Luis Acevedo getötet. (38) Mehrere Putschisten erhielten in den USA politisches Asyl: Oberst a. D. Pedro Soto, Oberst Silvino Bustiollo und Hauptmann Luis García Morales (39) Die zivile Galionsfigur des Putschversuches Carmona wurde zunächst vom Geheimdienst DISIP festgenommen, dann unter Hausarrest gestellt. Nach der Gesetzeslage drohten ihm bis zu zwanzig Jahre Gefängnis, aber die venezolanische Regierung ließ ihn am 29. Mai nach Kolumbien ausreisen. (40) Auch an der Spitze der staatlichen Ölgesellschaft mußte Chávez der Opposition nachgeben und den erst jüngst ernannten Direktor durch Alí Rodríguez ersetzen. Weiter im Amt ist der Gewerkschaftsboß Carlos Ortega. (41)

Zwar kamen die Putschisten billig davon, dafür droht dem Präsidenten Ungemach. Das Oberste Gericht (Tribunal Supremo de Justicia) eröffnete am 20. Juni 2002 ein Ermittlungsverfahren gegen Chávez. Dieser soll für seinen Wahlkampf 1998/99 illegale Spenden in Höhe von 1,525 Millionen Dollar von der spanischen Banco Bilbao Vizcaya Argentaria (BBVA) erhalten haben. (42) Die Opposition sieht hier eine Möglichkeit, Chávez auf legalem Wege vorzeitig los zu werden. Derweil bemüht sich eine Untersuchungskommission der Regierung (Comisión Especial) unter der Leitung von Edgar Zambrano die Putschereignisse zu rekonstruieren. Die Anhänger und Gegner von Chávez streiten nun darum, wer die meisten Todesopfer zu beklagen hatte. (43)

 

Verwicklung der USA

Bereits vom 5. bis 7. November 2001 fand in Washington eine Konferenz zwischen ranghohen Vertretern des Nationalen Sicherheitsrates, des Verteidigungsministeriums und des Außenministeriums zum "Problem Venezuela" statt. Auf dem Treffen hieß es, die Regierung in Caracas würde den Terrorismus in Kolumbien, Ecuador und Bolivien unterstützen. Im Februar diesen Jahres kamen klare Signale aus Washington: Am 2. Februar erklärte US-Außenminister Colin Powell vor dem Außenpolitischen Ausschuß des US-Senats, man sei mit der Regierung in Venezuela unzufrieden, u. a. weil Chávez den weltweiten Anti-Terror-Krieg nicht unterstützen würde. Vielmehr hatte dieser den USA vorgeworfen, in Afghanistan Unschuldige zu ermorden. (44) Vier Tage später prognostizierte CIA-Direktor George Tenet in einer Kongreßanhörung, die Situation in Venezuela "wird sich wahrscheinlich verschlechtern." Als Grund nannte Tenet süffisant "innenpolitische Unzufriedenheit". (45) Am 28. Februar wird die US-Botschafterin in Caracas, Donna Hrinak, abgelöst. Der neue Amtsinhaber Charles Shapiro kann auf eine blutige Vergangenheit zurückblicken. Während des Bürgerkrieges in El Salvador war er von 1983 bis 1988 an der dortigen US-Botschaft tätig gewesen. Seit dieser Zeit werden ihm enge Verbindungen zum Geheimdienst DISIP nachgesagt. (46) Die US-Regierung soll ab Februar 2002 über die Putschplanung informiert gewesen sein. (47)

Während des Staatsstreichversuches standen mindestens zwei US-Militärangehörige in ständigem Kontakt mit den Putschisten. Militärattaché Oberstleutnant James Rodgers und Oberst Ronald McCammon. (48) Sie hielten sich während der Putschtage im Hauptquartier des Heeres (Comandancia del Ejército) auf, das den Putschisten als Kommandozentrale diente. (49) Auch unter den Scharfschützen, die am Präsidentenpalast das Feuer auf die Demonstranten eröffneten, soll sich ein US-Staatsbürger befunden haben. Mindestens ein amerikanisches Kriegsschiff dümpelte während des Putsches vor der Küste, um den Funkverkehr und die Lageentwicklung zu überwachen. (50)

Wie viele andere lateinamerikanische Offiziere auch waren mehrere der venezolanischen Putschgeneräle an der früheren amerikanischen Militärschule "Escuela de los Americanos" in Fort Gulick (Panama-Kanalzone) in Guerillabekämpfung und Staatsstreichtaktiken ausgebildet worden. (51) Zu nennen sind hier die Generäle Martínez Poveda und Efraín Vásquez Velasco. (52) Vermutlich hatten die Putschoffiziere im Jahre 2001 Geld vom National Endowment for Democracy (NED) des amerikanischen Kongresses erhalten. Die insgesamt 877.000 Dollar sollten eigentlich der Förderung der Demokratie in Venezuela dienen, flossen aber genau in die oppositionellen Kreise, die im April am Putschversuch beteiligt waren. Das US-Außenministerium versucht nun zu klären, in welchem Umfang die Demokratiehilfe zur Finanzierung des Putsches "zweckentfremdet" wurden. (53)

Nach Angaben des amerikanischen Nachrichtenmagazins Newsweek fungierte Unternehmensführer Pedro Carmona nur als Marionette, während im Hintergrund der Großindustrielle Gustavo Cisneros die Fäden zog. Dieser ist mit George Bush Sen., dem Vater des amtierenden US-Präsidenten, befreundet. Während des Putschversuches stand Cisneros mit dem Leiter der Südamerikaabteilung des US-Außenministeriums Otto Reich, der früher US-Botschafter in Venezuela gewesen war, in Verbindung. (54) Auch der spanische Außenminister Josep Piqué hatte sich erst drei Tage vor dem Putsch mit Pedro Carmona getroffen. (55)

Perspektiven

Noch sind nicht alle Details bekannt und der Putsch nicht aufgeklärt. Immerhin bieten die Ereignisse vom 11. bis 13. April 2002 ein Lehrstück dafür, wie man einen Staatsstreich nicht macht. Dennoch besteht kein Grund zur Entwarnung: Zwar ist die Lage im Lande seitdem "ruhig", aber zugleich dauert die Staatskrise unvermindert an. Eine Besserung der Wirtschaftslage ist nicht in Sicht. Die politische "Stabilität" besteht darin, daß sich die beiden Blöcke der Anhänger und Gegner des Chavismo antagonistisch gegenüberstehen ohne daß eine Kompromißfindung möglich erscheint oder erwünscht wird. Im Militär hat die Spaltung dazu geführt, daß sich beide Seite gegenseitig paralysieren, solange, bis es zu einem erneuten Putschversuch kommt. Schließlich ist die konstitutionelle Staatsmacht zu schwach, um die Teilnehmer des April-Putsches vor Gericht zu stellen, so daß diese beim nächsten Komplott wieder dabei sind.

Wie in Lateinamerika üblich kommt der Politik der USA eine entscheidende Rolle zu, schließlich ist Venezuela der drittgrößte Ölexporteur der USA. Chávez stört die amerikanischen Pläne zur Beherrschung des Subkontinents und sie wollen ihn weg haben, ohne daß es zu einem ähnlichen Blutvergießen kommt wie in den siebziger Jahren. Dabei ist die Krise in Venezuela aus amerikanischer Perspektive nur ein Problem unter vielen: Im Nachbarland Kolumbien wird der Bürgerkrieg mittels Ausweitung des "Plan Columbia" zur gesteuerten Eskalation gebracht, und bezüglich Argentinien glaubt Washington, das Land nur noch durch den Einsatz von UN-Blauhelmen "retten" zu können.

Gerhard Piper ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).

 

Endnotes:

(1) Gaby Weber, Viel heiße Luft am Orinoco – Chávez hat wenig zu bieten, die Opposition noch weniger, Informationsstelle Lateinamerika (ila), Bonn, April 2002, S. 39.

(2) Friedrich Welsch, Wie geht es weiter?, ila, Mai 2002, S. 14.

(3) N.N., Putsch in Caracas, iz3w, Juni 2002, S. 5

(4) N.N., Chávez ordena el pase a retiro del coronel que pidío su dimisión, El País, 22.2.2002.

(5) N.N., Colectivos militares firman dos manifiestos de protesta, El País, 8.2.2002. Die Venezolanischen Streitkräfte umfassen derzeit 59.300 Soldaten, darunter sind 31.000 Mann Wehrpflichtige. Hinzu kommt die Nationalgarde mit insgesamt 23.000 Mann. Siehe: International Institute for Strategic Studies, Military Balance 2001/2002, London, 2001, S. 244f.

(6) Ludmila Vindogradoff, Un coronel de Venezuela exige la sustitución de Chávez por un civil, El País, 8.2.2002. Soto wurde am 21.2.2002 wegen Gehorsamsverweigerung in den einstweiligen Ruhestand versetzt.

(7) Rafael Del Naranco, Un tercer militar venezolano exige la renuncia de presidente Chávez, El Mundo, 19.2.2002.

(8) Zentralamerika-Sekretariat, Weltdiktatur in Venezuela, Zürich, 13.4.2002, E-mail: zaszas@compuserve.com

(9) N.N., Por qué fracasó el golpe, www.elpais.es/temas/dossiers/crisisvenezuela/lacrisis.html

(10) Tommy Ramm, Neue Fronten tun sich auf, Lateinamerika Nachrichten (LAN), März 2002, S. 48.

(11) Tommy Ramm, Hugo wieder Boss, LAN, Mai 2002, S. 4.

(12) Rafael Del Naranco, Hugo Chávez descarta un golpe de Estado militar, El Mundo, 10.2.2002.

(13) L. Vinogradoff, Chávez afirma que los militares rebeldes no son una amenaza, El País, 27.2.2002.

(14) Auch Mitglieder der linksextremistischen Gruppe Banderas Rojas, die in Opposition zur Chávez steht, sollen die Schießerei provoziert haben. Siehe: Tommy Ramm, Hugo wieder Boss, LAN, Mai 2002, S. 5.

(15) Rafael del Naranco, Chávez activó un plan militar contra la marcha opositora del 11 del April, El Mundo, 25.4.2002. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den "Caracazo"-Aufstand: Nach der Erhöhung der Benzinpreise am 27.2.1989 war es in Caracas zu Unruhen gekommen, die vom Militär brutal niedergeschossen wurden. Mindestens tausend Tote waren zu beklagen.

(16) N.N., Der missglückte Putsch in Venezuela, Freitag, 19.4.2002

(17) N.N., Por qué fracasó el golpe, www.elpais.es/temas/dossiers/crisisvenezuela/lacrisis.html

(18) Juán Jesús Aznárez, Un militar de EEUU estuvo hasta el final con los golpistas de Venezuela, El País, 22.4.2002.

(19) Juan Jesús Aznárez, Militares contra Militares en Venezuela, El País, 21.4.2002.

(20) Tommy Ramm, Hugo wieder Boss, LAN, Mai 2002, S. 7

(21) N.N., Por qué fracasó el golpe, www.elpais.es/temas/dossiers/crisisvenezuela/lacrisis.html. Die Brigade besteht aus drei Bataillonen, eine Kommando- und eine Fernmeldekompanie. Siehe: www.ejercito.mil.ve/guc/cdb/42bp/la42brin.htm

(22) Juan Jesús Aznárez, 350 jefes y oficiales secundaron el pronunciamiento del día 11 contra el Gobierno de Hugo Chávez, El País, 21.4.2002.

(23) N.N., Por qué fracasó el golpe, www.elpais.es/temas/dossiers/crisisvenezuela/lacrisis.html

(24) Tommy Ramm, Hugo wieder Boss, LAN, Mai 2002, S. 7.

(25) Rafael del Naranco, Venezuela sigue ‚traumatizado’ una semana después del golpe, El Mundo, 18.4.2002.

(26) N.N., Chávez desmiente el rumor de que se esté gestando otro golpe de Estado, El Mundo, 9.6.2002.

(27) EFE, El Supremo de Venezuela abre el camino para juzgar a Hugo Chávez, El País 22.6.2002.

(28) Rafael del Naranco, Chávez instala baterías antiaéreas en Caracas, El Mundo, 23.6.2002.

(29) N.N., Riesgo de guerra civil, El Mundo, 16.6.2002.

(30) Friedrich Welsch, Wie geht es weiter? ila, Mai 2002, S. 12.

(31) L. Vinogradoff, Hugo Chávez reúne a cientos de miles de seguidores en Caracas, El País, 1.7.2002.

(32) Jorge Marirrodriga, Human RightsWatch pide al presidente que aparte a los militares del Gobierno, El País, 12.7.2002.

(33) L. Vinogradoff, Hugo Chávez reúne a cientos de miles de seguidores en Caracas, El País, 1.7.2002.

(34) Juan Jesús Aznárez, 350 jefes y oficiales secundaron el pronunciamiento del día 11 contra el Gobierno de Hugo Chávez, El País, 21.4.2002.

(35) Die Zahlenangaben schwanken zwischen drei und achtzig Offiziere. Siehe: Jorge Marirrodriga, Human Rights Watch pide al presidente que aparte a los militares del Gobierno, El País, 12.7.2002; Juan Jesús Aznárez, Chávez depura las Fuerzas Armadas, El País, 16.4.2002.

(36) Ramy Wurgaft, Chávez detiene a la cúpula militar golpista, El Mundo, 16.4.2002.

(37) Rafael del Naranco, Chávez denuncia la intervención extranjera, El Mundo, 12.5.2002.

(38) N.N., Muere el jefe de la Fuerza Aérea en un accidente de helicóptero, El Pais, 21.4.2002.

(39) N.N., Chávez desmiente el rumor de que se esté gestando otro golpe de Estado, El Mundo, 9.6.2002.

(40) N.N., Carmona llega a Bogotá mes y medio después del golpe contra Chávez, El Mundo, 30.5.2002.

(41) N.N., Muere el jefe de la Fuerza Aérea en un accidente de helicóptero, El Pais, 21.4.2002

(42) Ana Lorenzo, La sociedad a la que BBV hizo pagos para la campana de Chávez, ligada a ex ministros, El Mundo, 27.5.2002.

(43) Juan Jesús Aznárez, Quién disparó en Miraflores? El País, 20.4.2002.

(44) Enric González, EEUU acusa a Hugo Chávez de no colaborar en la lucha antiterrorista, El País, 7.2.2002.

(45) Zentralamerika-Sekretariat, Weltdiktatur in Venezuela, Zürich, 13.4.2002.

(46) ebd.

(47) N.N., Hugo’s Close Call, Newsweek, 29.4.2002, S. 36f

(48) AFP, Dos militares de Estados Unidos acompanaron a los golpistas venezolanos, El País, 23.4.2002.

(49) Juán Jesús Aznárez, Un militar de EEUU estuvo hasta el final con los golpistas de Venezuela, El País, 22.4.2002.

(50) Duncan Campbell, American navy ‚helped Venezuelan coup’, Guardian, 29.4.2002.

(51) Die Schule wurde vor mehreren Jahren geschlossen und ihre Aufgaben zeitweise von der US-Infanterieschule in Fort Benning übernommen. Jetzt hat ihre Aufgaben die "Escuela de los Cóndores" im bolivianischen Sanandita übernommen.

(52) Carlos Fresneda, El "cerebro" del golpe contra Chávez fue el magnate Cisneros, El Mundo, 23.4.2002.

(53) Christopher Marquis, Wer finanzierte den Staatsstreich in Venezuela? ila, Juni 2002, S. 36.

(54) Carlos Fresneda, El "cerebro" del golpe contra Chávez fue el magnate Cisneros, El Mundo, 23.4.2002.

(55) Carlos Segovia, La caída de Chávez produce alivio en EEUU, El Mundo, 13.4.2002.